23. Mai 2016 •
Es ist kein gewöhnlicher Abend für das Ensemble des Wiener Burgtheaters, genauso wenig wie für die meisten Menschen in Österreich. Als erstes, aber sicher nicht letztes europäisches Land steht die Alpenrepublik an diesem Sonntag der Bundespräsidentenwahl an einem Scheidepunkt – oder, um bei Ferdinand Schmalz zu bleiben, an einem „wendepunkt, hier kehrt man um, bevor es dann zu spät. zu spät. zu spät“.
An diesem Abend in Mülheim zu sein und Schmalz‘ „dosenfleisch“ zu spielen sei schon etwas sehr Besonderes, sagt Dorothee Hartinger, die die Tankstellenbesitzerin „beate“ spielt. „Die Atmosphäre des Stücks trifft für mich die ganze politische Situation ganz gut, dieses Fehlen von Empathie, die Allmachtfantasien.“
Billige Heilsversprechen
Eine Parallele zur politischen Situation seines Landes sieht auch Autor Ferdinand Schmalz. Menschen, die sich durch alle Schichten hindurch einer kollektiven Depression hingeben, seien anfällig für „billige Heils- und Erlösungsversprechen“, erklärt er. „Teilweise wissen sie sogar, dass diese Versprechen nirgendwo hin führen, dass sie hohl sind.“
Wenn es aber nun vielen Menschen wie dem gestrandeten „fernfahrer“ in „dosenfleisch“ vor allem darum gehe, dass überhaupt irgendetwas passiert („so lang man in bewegung ist, verwest man nicht“) – sei man vor mittelschweren Katastrophen eben nicht gefeit.
Endlich wieder etwas schmecken
Noch vor der Katastrophe kommt der Geschwindigkeitsrausch, in den sich Schmalz‘ Figuren versetzen, um endlich einmal wieder etwas von ihrem faden, konservierten Leben zu schmecken. Der Rhythmus der Autobahn mit endlos vorbeirauschenden Konservendosenautos findet sich in Schmalz‘ Text wieder, der „schon eine Partitur ist“, wie Musikerin Katharina Ernst sagt. Sie sehe sich als fünfte, „personenlose Rolle“, die als solche im Text angelegt sei.
Dazu passt, was Ferdinand Schmalz von seinem ersten Treffen mit Regisseurin Carina Riedl erzählt: „Zu allererst sagte sie, dass der Rhythmus der Sprache für sie zentral sei und sie ihn mit einem Schlagzeug umsetzen wolle.“
Die Rhythmisierung, Umstellung und Verdichtung der Sätze ist charakteristisch für Schmalz‘ erhöhte Theatersprache. Er wolle für das Theater eine spezielle Form des Textes schaffen, an dem die Schauspieler sich abarbeiten könnten, sagt Schmalz. Dass das auf und vor der Bühne großen Spaß macht, bestätigt auch „fernfahrer“-Schauspieler Daniel Jesch: „Das geht absolut gut in den Schädel rein und aus dem Mund wieder raus“.
Endet mit der Tankstelle die Welt?
In einem angenehm offenen Austausch beantworten Autor Schmalz und das Ensemble des Wiener Burgtheaters die Fragen des recht schweigsamen Publikums. Besonders der Autor selbst zeigt sich dabei sehr zugänglich und aufgeschlossen für Verständnis- und Interpretationsfragen und scheut sich nicht, konkrete Antworten zu geben, wo andere vielleicht gewitzelt hätten oder nebulös ausgewichen wären. Ob mit dem Ende der Tankstelle denn nicht auch ein Ende der Welt gemeint sei, fragt beispielsweise eine Zuschauerin und bekommt darauf von Schmalz ein klares, aber nicht belehrendes „Nein“ zu hören.
Dass das Publikum mit seinen Fragen trotz des sympathischen Podiums so zögerlich blieb, lag wohl daran, dass die Gedanken nach dem runden, in sich abgeschlossenen Theaterabend immer noch fieberhaft der Frage hinterherrasten, welche Spur nun die richtige sein könnte: für das eigene Leben, für Österreich, vielleicht auch für ganz Europa. Denn vielleicht haben wir es gerade heute mit einem Moment zu tun, in dem sich vor uns die Spur teilt: „das heißt, dass wir uns jetzt entscheiden müssen. links ist die strecke weiter, doch weitestgehend sicher, rechts spart man zeit, doch keine nerven.“