14. Mai 2016 •
Eine Woche, fünf Stücke, drei Juroren und vor allem viele, viele Kinder, die im Theater an der Ruhr und im Ringlokschuppen ganz individuelle Eindrücke gesammelt haben. Wir lauschen der Stimme eines jungen Theaterzuschauers: Wenn das Stück, das er kurz vorher gesehen hat, ein Tier wäre, dann wäre es am ehesten ein Bär. Logisch, hat doch das Abschlussstück der Woche „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zaunes schaute“ gerade noch verschiedene Tiere entweder als Systemmitläufer (Pavian, Murmeltier, Schwan) oder als kritisch denkende und handelnde Zeitgenossen präsentiert, den Bären zum Beispiel.
Nicht wenige dieser Eindrücke haben die Kolleg:innen vom KinderStücke-Blog direkt nach den Aufführungen eingefangen. Zwar ging es dem Jungen bei seinem Kommentar nur um eines der insgesamt fünf KinderStücke, doch auf ihre Art sind sie alle „Bären“: Ein jedes geht mit seiner Thematik mutig, reflektiert und kritisch um. Auch die Autoren selbst scheuen die Auseinandersetzung nicht, schließlich nehmen sie alle persönlich an der Jurysitzung teil: „Es ist eine Premiere, dass alle fünf Autoren hier dabei sind“, freut sich Festivalleiterin Stephanie Steinberg – und damit beginnt am Freitag die abschließende Jurysitzung zur Verleihung des Mülheimer KinderStückePreis 2016.
Enges Kopf-an-Kopf-Rennen
Den Anfang macht die Jugend-Jury, die aus fünf Mülheimer Schülerinnen besteht. Auch in diesem Jahr haben sie unabhängig von der Fachjury gelesen, geschaut und diskutiert. Nach einem engen Kopf-an-Kopf-Rennen haben sie sich schließlich entschieden – für Carsten Brandaus „Himmel und Hände“.
Nun beginnt die Debatte der Fachjury: Mit kurzen inhaltlichen Zusammenfassungen starten die Juroren Andrea Gronemeyer, Intendantin des Jungen Nationaltheaters in Mannheim, Werner Mink, Regisseur, Dramaturg und Mitglied des KindeStücke-Auswahlgremiums, und Sabine Leucht, Journalistin und Theaterkritikerin, in ihre Diskussion.
Das erste Stück der Woche, „Ronny von Welt“, hat es besonders Jurorin Andrea Gronemeyer angetan. Sie lobt, wie Autor Thilo Reffert mit Witz und gleichzeitiger Ernsthaftigkeit den existenziellen Neuanfang behandelt, den ein Schulwechsel für Kinder darstellt. Auch die Lust am Fabulieren und Erzählen als zentrales Thema des Textes habe ihr gut gefallen, allerdings sei sie mit der Wahl des Textes, aus dem Ronny sich seine Lügenmärchen abschaut, nicht ganz glücklich gewesen. „Was an den Münchhausen-Geschichten gelogen ist, ist ja klar“, erklärt Gronemeyer. Ihrer Meinung nach hätte dieser Aspekt noch spannender werden können, wenn Ronny seine Realität selbst kreiert hätte, statt sie aus dem Buch zu übernehmen. Auch Jurorin Sabine Leucht hätte sich einen stärkeren Fokus auf Ronnys eigene Fantasie gewünscht, stimmt insgesamt aber genau wie Werner Mink in das große Lob für „Ronny von Welt“ ein.
Freiräume für Fantasie
Auch „fuchs & freund“ von Nora Mansmann findet bei den Juroren viel Anklang. Einen „Soundtrack zum ersten Schultag in Sprache“ nennt Leucht das sprachlich sehr konzentrierte Stück. „Ich mochte den Text sofort“, sagt Juror Mink, „weil er sehr karg ist und viel Freiraum für das Theater bietet“. Gronemeyer findet den Protagonisten fuchs in seiner Andersartigkeit sehr berührend. Allerdings gehe das Stück für sie „nicht ganz auf“, weil die Musik eine größere Wichtigkeit bekomme als der Text: „Der Rhythmus jagt das Stück weiter und lässt ihm wenig Raum.“
Von Fin-Ole Heinrichs Stück „Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes“ sei sie regelrecht „geflasht“ gewesen, schwärmt Gronemeyer – und besteht sogar darauf, einige Sätze aus dem Stück vorzulesen. Mit seiner reichen Sprache beschreibe das Stück die sinnliche Naturerfahrung im Wald, ohne sie zu verherrlichen, urteilt Jurorin Leucht. Allerdings sei das Motiv der Selbstfindung im Wald eher eines für erwachsene Zuschauer. Juror Mink lobt das Stück als „Feuerwerk, das Text zum Erlebnis macht“, auch wenn er es nach eigener Aussage „als halben Prosatext gelesen“ habe.
Diese Kritik muss sich auch „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“ gefallen lassen. „Es ist ein Problem der Vorlage, dass der Text zu 80 Prozent episch ist“, erklärt Mink. „Da besteht die Gefahr, dass es schnell statisch wird.“ Trotzdem sei das Stück als Parabel auf unsere heutige Welt, in der uns als Fernsehzuschauern die Katastrophen der Welt ins Wohnzimmer getragen werden, besonders wichtig und spannend. Gronemeyer empfindet es als geschickten Kunstgriff, dass wir in dem Stück wenig über die Täter und noch weniger über die Opfer erfahren, sondern uns lediglich mit den Mitläufern eines Regimes konfrontiert sehen, die uns als Identifikationsfiguren dienen können. Indem es beispielsweise den Pavian als typischen systemkonformen Feigling zeichne, mache sich das Stück es aber etwas zu leicht: „Man kann die Charaktere zu leicht für ihre Feigheit verurteilen.“
„In dem Stück finde ich mich als Mensch wieder“
Und schließlich ist da „Himmel und Hände“: Die Jugend-Jury hat ihre Wahl zu Beginn der Sitzung damit begründet, dass jeder etwas aus dem Stück ziehen kann – ob Kind oder Erwachsener. Obwohl die Juroren der Fachjury noch viele weitere Vorzüge des Stücks finden, kommen auch sie immer wieder zu genau diesem schlichten, aber schlagenden Argument zurück. Im Spiel mit der verdichteten Sprache, bei der jedes Wort sauber platziert und notwendig ist, packe das Stück die großen Themen des Lebens mit Leichtigkeit an. Begeistert sind die Juroren auch von der Emanzipation und der gegenseitigen Toleranz der Figuren. All das mache „Himmel und Hände“ zu einem Stück, das bei jedem Lesen besser werde, wie Werner Mink sagt. Gronemeyer finde sich in dem Stück als Mensch wieder. Leucht fasst schließlich schlicht zusammen: „Es ist das einzige Stück, an dem ich rein gar nichts ändern würde“.
Und so gewinnt Carsten Brandau auch den mit 10.000 Euro dotierten KinderStückePreis – eine weitere, nahezu „historische“ Besonderheit des heutigen Tages, wie Stephanie Steinberg sagt. Es komme selten vor, dass Jugend- und Fachjury sich in ihrer Wahl so einig seien.