„Wenn der mich findet, macht der mich tot“
Anna ist auf der Flucht, in doppelter Hinsicht: im Herkunftsland politisch verfolgt, am aktuellen Aufenthaltsort vom Ehemann gestalkt. „Wenn der mich findet“, sagt Anna, „macht der mich tot“. Ronja wiederum, gerade achtzehn geworden, soll gegen ihren Willen heiraten – einen Cousin. Der innerfamiliäre Druck wird mit Äußerungen à la „WER WILL DICH ÜBERHAUPT NOCH / IN DEINEM ALTER (…)“ verstärkt. Melanie schließlich – Akademikerin und einst „GESCHÄFTSFRAU DES JAHRES“ – sucht mit Verbrennungen zweiten Grades medizinische Hilfe in einer Praxis, die für den Küchen-Unfall, den sie als Ursache angibt, verräterisch weit vom Wohnort entfernt liegt. Die behandelnde Ärztin verortet den mit der Haut verschmolzenen Blusenstoff, den sie von Melanies Brandwunde abzieht, im vierstelligen Preissegment.
Sechs Frauen, die regelmäßig häusliche Gewalt erfahren und Zuflucht in einem Frauenhaus gefunden haben, stehen im Zentrum von Felicia Zellers Stück, das auf der Grundlage von Interviews entstanden ist und zuallererst einmal einem grassierenden Stereotyp entgegentritt: „Viele denken, das ist ein Ort für asoziale / Für verprügelte Unterschichts-Frauen / Aber wir beraten auch Frauen, die in hohen Positionen“, lässt die Dramatikerin – in der ihr eigenen elliptischen Syntax – die im Stück auftretende Frauenhausmitarbeiterin sagen.
Überhaupt nähert sich Zeller ihrem Sujet ungemein vielschichtig und perspektivenreich. So arbeitet sie zum Beispiel ebenso subtile wie weit verbreitete weibliche Sozialisationsmuster heraus, die dazu führen, dass viele Frauen die Schuld noch für den brutalsten Übergriff des Partners reflexhaft bei sich selbst suchen. Die eine strengt sich an, den Sauberkeitsgrad ihrer Wohnung von hundert auf hundertzwanzig Prozent zu steigern, um den Dauerattacken ihres Mannes („Kannst du nicht einmal ordentlich putzen?“) zu entgehen. Die andere – als Reaktion auf einen vermeintlich zu heiß servierten Kaffee gerade von ihrem Mann im Gesicht verbrüht – fragt sich: „Vielleicht war der Kaffee wirklich ein bisschen heiß (…) / Vielleicht bin ich einfach nicht einfühlsam genug (…) / Er steht wahrscheinlich unter Stress“.
Auf einer weiteren Ebene werden diese Erzählungen immer wieder mit der pragmatischen, empathiefreien Sprache der Bürokratie konfrontiert: einer Sprache, die Schicksale zu Verwaltungsvorgängen macht und sich mit realitätsfernen Regelsätzen und hölzernen Mehrfachgenitivierungen selbstzufrieden gegen gegenständliche Nöte immunisiert.
So vermittelt der Abend in der konzentrierten Regie von Eike Weinreich nicht nur komplex, intensiv und gänzlich frei von falschem Pathos, wie erschreckend viele Frauen von häuslicher Gewalt betroffen sind. Sondern er legt überdies auch offen, wie funktional – oder dysfunktional – sich staatliche Hilfsstrukturen ausnehmen.
Christine Wahl