Alle tot, außer ihr
Ärger mit dem Finanzamt hat jeder mal. Auch Elfriede Jelinek. Die österreichische Literaturnobelpreisträgerin hatte vor Jahren sogar ein steuerliches Ermittlungsverfahren am Hals. Der bayerische Fiskus hatte die Autorin, die mit ihrem Mann nicht nur in Wien, sondern bis zu dessen Tod im vergangenen Jahr auch in München wohnte, ins Visier genommen. Das Verfahren ist längst ergebnislos ad acta gelegt. Nicht aber für Jelinek, die die rüde Art, wie die Steuerfahndung in ihr Leben eindrang und ihre privatesten Unterlagen und E-Mails beschlagnahmte, schwer terrorisiert und traumatisiert zu haben scheint. In ihrem umfangreichen Text „Angabe der Person“ nimmt die Autorin den staatlichen Übergriff zum Anlass, jetzt erst recht Details aus ihrem Leben und ihrer grimmig mäandernden Gedankenwelt offenzulegen – Dinge, die der Staat gar nicht unbedingt wissen wollte. Denn wenn es zum Beispiel um Naziverbrechen und Nazivermögen geht oder um finanzwirtschaftliche Betrügereien im ganz großen Stil à la Flick-Affäre, Cum-Ex-Geschäfte oder Wirecard, nehmen es die Behörden nicht so genau.
„So, bauen wir mal meine Lebenslaufbahn“, heißt es gleich zu Beginn dieser wutgetriebenen Selbstdeklaration, in der Jelinek auch die jüdische Herkunft ihres Vaters thematisiert und von Verwandten erzählt, die während der Nazizeit vertrieben, deportiert und/oder ermordet wurden. „Angabe der Person“ ist einer ihrer persönlichsten, waidwundesten Texte, geschrieben in dem Bewusstsein, dass sie, die Kinderlose, die Letzte der Jelineks ist: „Alle weg, alle futsch, außer mir.“ Die Autorin geriert sich beim Schreiben als „Totendompteuse“, wieder einmal, aber auch als Chefanklägerin und Großreinemachefrau, „eine Art Windel für die Welt“ nennt sie sich einmal. In gewohnt sarkastischen, kalauernden, wild stromernden Kaskaden kommt sie vom Biografischen auf das systemische Ganze, auf globale Geldströme, historische Verstrickungen, auf Alt- und Neu-Nazis, Schuld und Schulden, Deutschlands „Untaten“ und „Untoten“. Es ist ein starker, phänotypischer Text, dem auch eine große Trauer innewohnt. Jelinek at her best.
Daher schon wieder Jelinek in Mülheim, zum 22. Mal. Aber um dieses sehr private, sehr politische Stück kamen wir als Auswahlgremium nicht herum. Und wer würde Ihnen, dem Mülheimer Publikum, die ungemein genaue, grandios feinsprachliche, bitter-klug-komische Uraufführungsinszenierung von Jossi Wieler vorenthalten wollen? Die Sprechkunst und Entertainer-Qualität, mit der sich die drei Schauspielerinnen Linn Reusse, Fritzi Haberlandt und Susanne Wolff das Textkonvolut auf je besondere Weise zu eigen machen, ist ein Ereignis. Die drei sind an diesem Abend Stellvertreterinnen der Autorin, sehen aus wie Drillinge und erinnern mit ihren Perücken an die frühe Jelinek. In Gestalt von Bernd Moss kommt sogar auch Jelineks verstorbener Mann vor, der Komponist und Informatiker Gottfried Hüngsberg. Er nennt sie zärtlich Elfi und ist die Geduld in Person.
Christine Dössel