Laudatio auf die Publikumspreisträgerin Felicia Zeller und ihr Stück "Kaspar Häuser Meer"
8. Juni 2008.
Theaterkritiker glauben, dem Publikum immer etwas erklären zu müssen, – warum etwas gut oder schlecht, richtig gedacht oder falsch gemacht, preiswürdig oder verdammenswert ist. Dass das "normale" Publikum gelegentlich, vielleicht sogar oft, anderer Meinung ist, stört dabei nicht, sondern beflügelt den Kritiker eher. Was aber tun, wenn das Publikum einer Autorin einen Preis verleiht und der Kritiker nun loben will und muss, – sowohl die Autorin wie die Entscheidung des Publikums? Für meine Laudatio auf die Dramatikerin Felicia Zeller und ihr Stück "Kaspar Häuser Meer" lautet der Ausweg: Ich werde Ihnen nicht das Stück erklären, sondern Ihnen zu erklären versuchen, warum Sie das Stück gut gefunden haben.
Dabei haben Sie es wahrscheinlich einfacher gehabt als ich: Sie mussten das Stück nicht lesen. Denn das ist wahrlich harte Arbeit. Als ich das erste Mal mit einem Text von Felicia Zeller zusammenstieß – das war im Jahr 2002 vor der Uraufführung ihres Stückes "Triumph der Provinz" am Theaterhaus Jena –, fand ich nach einiger Zeit den Ausweg hinein in die Lektüre. Ich begann laut zu lesen, ich schwang mich in die Texte und bewegte mich mit den Texten. Nicht vorwärts allerdings wie die Einzelkämpfer, die in diesem Stück von der Autorin auf die Suche nach ihren Identitäten geschickt werden, sondern im rasenden Stillstand einer realistisch überdrehten Sprache.
Nie besser scheitern
Womit wir auch bei "Kaspar Häuser Meer" sind. Weil dessen Thema laut Autorin "der Eindruck von Bewegungslosigkeit und scheinbarer Untätigkeit bei gleichzeitig ständig anstehender, inflationärer Tätigkeit" ist, also ein allgemeines gesellschaftliches Gefühl und das Klima der meisten Stücke von Felicia Zeller beschreibt. Scheitern, immer wieder scheitern, aber nie besser scheitern, das ist das Thema. Helfen sollen und auch wollen, aber immer zu spät kommen, oder manchmal auch nicht so handeln wollen, wie es die Klienten wünschen – das dringt in die Sprechakte ein und lässt die Sätze unvollendet.
"Kaspar Häuser Meer" verdankt sich einem Stückauftrag des Freiburger Theaters. Ausgehend vom 'Fall Kevin', einem zweijährigen Jungen, der trotz Beobachtung durch das Jugendamt tot im Kühlschrank seines Ziehvaters landete, sollte ein Stück um Kindesmisshandlung und Probleme von Sozialarbeit entstehen. Das hätte gruselig und pathetisch werden können, wenn Felicia Zeller Kindesleid und das Handeln der Täter gezeigt und angeprangert hätte. Man wäre unheimlich folgenlos betroffen und emotional aufgerührt und angeregt gewesen. Ein Geniestreich der Autorin aber war es, nicht die Opfer und nicht die Gewalttäter zu zeigen, sondern ihre Begleiter und Betreuer, – also die Gesellschaft und ihr Klima.
Handeln im "Björnout"-Zustand
Zeller hat sich umgehört und hat recherchiert in der Sozialarbeiterszene und dann ein Szenarium allgemeiner Überforderung entworfen. Zeller zeigt das Nichthandeln und das Handeln im (nach einem krankgeschriebenen Kollegen bezeichneten) sogenannten "Björnout"-Zustand. Es ist eine abgeschlossene, eigene Arbeitswelt, in die die Sprache ihrer als prollig abqualifizierten Klienten, dieser "paranoiden Querulanten", wie aus Feindesland und wie aus einer rotierenden Parallelwelt herüber klingt.
Zellers drei Sozialarbeiterinnen besitzen durchaus individuelle Eigenschaften, Biographien und Haltungen, doch ihr der Wirklichkeit abgelauschter, zugleich fiktiv überhöhter Sound dröhnt wie von einer fertigen Schallplatte des Lebens. Er wirkt weder authentisch noch dokumentarisch, und von den sogenannten "Experten des Alltags", die die Casting-Theatergruppe Rimini Protokoll gern auf die Bühne holt, trennt diese Sozialarbeiterinnen ihre "realistische Künstlichkeit" – um zu versuchen, einen eigenen Begriff zu setzen gegen die oft zitierte Formulierung der Autorin, ihre Stücke seien "an der fiesen Kante zum Realismus, aber nicht realistisch". Wer mit "Kaspar Häuser Meer" Probleme hat, weil er nicht entscheiden mag, ob er es realistisch nennen kann, hat dem Stück nicht zugehört. Authentisch ist Theater nie, und selbst die Wirklichkeit ist es nur selten. Felicia Zeller untersucht und beschreibt Wirklichkeit in ihrer Spracherscheinung und Sprechform, sie ist eine Sammlerin und Monteurin von zu Sprache geronnenen Realitätspartikeln in Amtssprache, Therapiesprache, Klientensprache usw. usf.
Ausgekippter Sprachvorrat
Während René Pollesch in seinen Wortkaskaden unentwegt durch Erklärungen mäandert und Elfriede Jelinek in ihren Textflächen regelmäßig Kalauer als Ruhepunkte der Selbstsicherheit einzieht, kippt Felicia Zeller nicht nur in "Kaspar Häuser Meer" einen ungeheuren Sprachvorrat vor uns aus. Er wird genährt aus Vorurteilen, aus Un- wie Unterbewußtem, aus Abgelauschtem und Aufgeschnapptem. Dabei schreckt sie auch nicht vor Klischees zurück, und ihre Komik ist von unangestrengter Direktheit. Hier darf gelacht werden, hier muss gelacht werden, denn was wehtut, kann auch sehr komisch sein – nicht nur bei Tschechow.
Felicia Zellers Stücke erklären nicht, sondern sie präsentieren, und zwar Haltungen, nicht Handlungen. Denn eigentlich wird in diesem Stück nicht gehandelt, sondern Nichthandeln erklärt und zu begründen versucht. Dabei sind die Texte gelegentlich klüger als die Autorin. "Das habe ich entschieden, und damit basta", sagt einmal, ich glaube, Barbara. Auch acht Sozialarbeiterinnen würden an bestimmten Machtgefühlen und Arbeitsstrukturen nichts ändern. "Kaspar Häuser Meer" ist nämlich auch eine Bürosatire, was die Autorin leider allzu einverständig mit ihren durchaus machtbewussten Protagonistinnen fühlen lässt.
Wortschwalltexte auf Highspeed
Zellers Stücke sind immer anstrengend, manchmal sogar eine Zumutung, aber sie bieten dem Lesepublikum Arbeit, Unterhaltung und grotesken Witz. In dieser Reihenfolge, – für das Zuschau-Publikum ist die Reihenfolge im Idealfall umgekehrt. Immer aber gibt die Autorin dem Hörer und Zuschauer die Möglichkeit, durch die Sprachoberfläche hinein ins Innere der Stückfiguren, aber auch in sein eigenes Innere zu schauen. Es geht auch um uns, das muss nicht extra betont werden in den Zeller'schen Stücken. Deren Sprache stets selbst etwas preisgibt, von sich, von den Sprechenden, vom Besprochenen, von Denkstrukturen, und die zur Sprachmusik wird, ohne dass die Autorin Position bezieht, zu beziehen wagt oder beziehen müsste.
In ihren Wortschwalltexten stoßen abgebrochene gegen unfertige neue Sätze, sie verhaken sich, hakeln miteinander, und unentwegt stellen sich Zitate aufrecht in den Weg. "Die Damen rotieren von Anfang an. Die Sprechgeschwindigkeit ist schneller als normal", befiehlt die Autorin in ihren als Anmerkungen getarnten Regieanweisungen und untertreibt mit diesem Satz mächtig. Denn ihre Texte sind immer voll auf Highspeed. Ob die drei wirklich miteinander und zueinander sprechen, weiß ich nicht genau. Dass sie Einzelkämpfer sind, die einen körperlichen Abstand voneinander einhalten müssen, hätte die Autorin nicht extra in ihre Regieanweisungen aufzunehmen brauchen. Denn diese Menschen sind sich so nah, dass sie sich nicht berühren dürfen und können.
Vorwärts im rasenden Stillstand
Felicia Zellers Stücke sind Libretti oder Partituren, die erst auf der Bühne zu Theater werden. Weshalb in dieser Laudatio das tolle Freiburger Uraufführungsteam der rotierenden Schauspielerinnen Rebecca Klingenberg, Bettina Grahs und Britta Hammelstein ebenso wenig fehlen darf wie der Regisseur Marcus Lobbes. Sie bringen das Stück mit ihren Stimmen und Bewegungen im wahrsten Wortsinne zum klingen. Was bei der Lektüre gelegentlich redundant wirken mag, bekommt in der Dar- und Ausstellung von Sprache auf der Bühne eine unendlich stockende Bewegung und Beweglichkeit: ja, es geht immer vorwärts, aber nur im rasenden Stillstand.
Womit der Bogen geschlagen wäre zur Anfangsthese: Felicia Zellers Stück "Kaspar Häuser Meer" ist Sprachmusik über und aus unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Kein Sozialdrama, kein Betroffenheitsschmus, sondern Theaterkunst. Für mich hat Felicia Zeller mit "Kaspar Häuser Meer" einen weiteren Schritt zu einer sehr eigenartigen und eigenen Theaterform gemacht. Das ist nicht genug zu loben. Und auch das Publikum ist nicht genug zu loben, das dies erkannt und Felicia Zeller völlig zu Recht den Publikumspreis zuerkannt hat.
So können wir doch eigentlich alle ganz zufrieden sein.