Laudatio auf Elfriede Jelinek 2011
Ich wandere nicht mehr gerne, weil ich auch nicht mehr gerne aus dem Haus gehe. Jetzt muss ich sozusagen im Schreiben wandern.“ Das schrieb uns Elfriede Jelinek einmal, vor gut einem Jahr, während der ersten Vorbereitungen zur WINTERREISE.
In der Uraufführungsinszenierung von Johan Simons sitzt André Jung einmal eine ganze lange Weile an dem alten Harmonium und tritt mit seinen Füßen den Blasebalg. Auf dass der Klavierspieler im Skianzug, der in diesem Moment wirkt wie ein freundlicher, musikbegabter Pfleger in einem Heim, sich von hinten über ihn beugend, das Lied „Wirtshaus“ auf der Tastatur für ihn spielt. Die Füße des Wanderers, der dieser Vater einmal war, treten auch dann noch weiter, als die Hände des anderen längst aufgehört haben zu spielen. Sie wandern weiter, nur weiter, als wären die Blasebalgpedale des Harmoniums die alten Wege, auf denen er einst durch die Landschaft lief.
Die Textlandschaften, die uns Elfriede Jelinek im Schreiben wandernd erschließt, sind keine sommerlichen mit seichten grünen Hügeln. Genauso wenig, wie der Wanderer in Schuberts Winterreise ein fröhlicher Wandergesell ist, „mit Sträusschen am Hute, den Stab in der Hand“. Jelinek führt uns eher in steiles, steiniges Gebirge, durch unwirtliches, winterliches Gelände, das zu betreten eine willkommene Zumutung ist. Das Gelände, was sie auf den Spuren von Schuberts Wanderer in ihrer WINTERREISE durchmisst, hat einen sehr großen Radius: Der reicht von aktuellen politischen Themen, die sie zur Sprache bringt, indem sie, wie nur sie es so meisterlich versteht, hineinhorcht in den kollektiven Bewusstseinsstrom unserer Gegenwart, bis hin zu sehr persönlichen Geschichten, für die sie tief in sich selber hineinhören muss. Und da Elfriede Jelinek, wie ich vermute, ein absolutes Gehör hat, ist das Segen und Fluch zugleich. Denn sie hört alles. Auch alle Zwischen- und alle Misstöne, das Schöne und das Hässliche, den ganzen „Abfall des Menschen“ hört sie eben auch. Und konfrontiert uns damit, bis es uns „zu den Ohren wieder herausrinnt“, wie es an einer Stelle in der WINTERREISE heißt.
Da ist der Bankenskandal um den Kauf der HypoAlpeAdria Group, bei dem, wieder einmal, die Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert wurden, oder mit Jelineks Worten: „Die Gesellschaft genießt nicht, aber die Gesellschaften, die genießen schon.“
Oder da ist das Entführungsopfer Natascha Kampusch, die achteinhalb Jahre von ihrem Peiniger gefangen gehalten wurde. Und als sie wieder auftaucht aus ihrem Verlies spricht ihr die Mehrheitsgesellschaft mit dem Minderwertigkeitskomplex das Existenzrecht im Rampenlicht der Öffentlichkeit, in das sie sie zunächst gezerrt hatte, wieder ab. Das Opfer, das sich anders verhält, als die Zuschreibungen als Opfer es ihr zugestehen, soll ins Dunkel der Anonymität zurück. „Nun, ein Keller muss es ja nicht sein. Aber wir sind die Öffentlichkeit. Und überhaupt: Warum komme ich mit meiner wunderbaren Spur nicht ins Fernsehen?“ Hier spricht ein sich mehr und mehr in Rage redendes Kollektiv, ein „Wir“, dessen liebster Sport das Ausschließen, die Exklusion ist. Des Fremden, des Anderen, des Hinfälligen auch.
Oft betritt Elfriede Jelinek in dieser WINTERREISE aber auch sehr persönliches Gebiet ihrer eigenen Biographie, ihrer Erinnerungen an Mutter und Vater, sucht die Spuren, die diese in der Gegenwart des Lebens hinterlassen haben. Ihrem Vater, der Ende seines Lebens mehr und mehr verstummt ist, dem, wie es bei Jelinek heißt, „der Verstand schon vorausmarschiert ist“, gibt sie die Sprache zurück. Dichter und dichter werden da, wo er spricht, die Zitate aus Müllers/Schuberts Liederzyklus hineingewoben. Es ist, als ob der Vater sich die Worte ausborgt, um sprachmächtig seiner Ohnmacht Ausdruck zu verleihen.
Oder sie beschreibt „Ich“ sagend die existentielle Erfahrung der eigenen Endlichkeit, der Fremdheit: „Ich bin ein Fremdling, überall.“
Eigentlich kommen in der WINTERREISE nahezu alle Themen, die Elfriede Jelinek in ihren Stücken angegangen ist, noch einmal vor. Die WINTERREISE ist, wie André Jung es hier in Mülheim bei der Diskussion im Anschluss an die Vorstellung nannte, vielleicht ihr „Opus Magnum“.
„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus. Mit diesen Zeilen beginnt Willhelm Müllers/Franz Schuberts Winterreise. So sehr dies nicht nur den Grundton bei Schubert, sondern eben auch bei Jelinek bildet, so wenig kommen diese Zeilen als in den Jelinekschen Sprachteppich eingewobene wörtlich vor. Zumindest nicht am Anfang und in unserer Fassung gar nicht. Aber anwesend sind sie doch: in all den Varianten des Ausschliessens, des Hinausdrängens aus Zugehörigkeiten, die in der WINTERREISE so schmerzlich durchgespielt werden.
Wenn die Schauspieler, vor dem Sturm flüchtend, am Anfang durch die Tür im eisernen Vorhang auf die Bühne geweht kommen, singen sie die Begleitung des Liedes mit dem Schuberts Winterreise beginnt: „Gute Nacht.“ Und das Klavier spielt die Melodie „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ dazu. Der Text entsteht nur im Kopf des Zuhörers, der die Melodie mit innerer Stimme und den Worten dazu stumm im Kopf mitsingt. Der Vater derweil zieht die transparente Plastikfolie vom Harmonium und wickelt sie solange zu einem Bündel zusammen bis dieses in seinem Armen zärtlich gehalten zu einem Baby, zu seinem Kind wird. Dann beginnt er mit den Zähnen Stücke aus der Plastikfolie heraus zu beissen und wenig später schmeißt er das ganze, wieder unhandlich gewordene, Plastikfolienknäuel abrupt ins Publikum.
Paradoxerweise sind es auch solche Momente des Innehaltens, des Anhaltens des langen Textflusses, die uns Jelinek, wenn auch indirekt, schenkt. Sie wirken wie ein stumm-beredtes Kondensat dessen, was sie da geschrieben hat – eben für das Theater geschrieben hat. Es ist, als würde das Theater „dem Redefluss für einen Moment einen kleinen Staudamm bauen“ – so hat sie es selber einmal beschrieben.
Es ist ein unablässiger, überaus assoziationsreicher Redestrom, den diese Autorin dem Theater so generös zur Verfügung stellt. („Zur Entnahme frei“, wie sie sagt). Sie lässt Schauspieler, Zuschauer und Zuhörer teilhaben an ihrem Sprache gewordenen Gedankenstrom, als sei man an ihren Gedankenstromkreis angeschlossen. All die Wortkaskaden, Assoziationsketten, lassen einen gebannt zuhören, lassen einen fortwährend aufhorchen, wenn sie wieder einmal etwas mittels der Sprache zur Kenntlichkeit entstellt und und blitzhell beleuchtet, was man so noch nie gesehen hat. Sie komponiert Sprache so überaus musikalisch, dass es etwas Mitreißendes hat, der Jelinekschen Sprache zuzuhören. Ja, sie hält einen fortwährend in Atem, setzt in Bewegung; Gedanken und Gefühle gleichermaßen. Es sind keine Textflächen, die sie da schreibt. Sie selbst mag diese Beschreibung schon länger nicht mehr. Und sie trifft auch nicht zu. Dazu sind ihre Texte viel zu plastisch. Vielleicht ist Elfriede Jelinek eher eine Webmeisterin. Zumindest ist man bei der WINTERREISE, die so kunstvoll all die großen und kleinen Zitate aus Müller/Schuberts Liederzyklus einwebt, geneigt, sie als eine solche zu bezeichnen. Aber „Textteppich“ würde es nur treffen, wenn es möglich wäre Teppiche zu weben, die die Form einer Matrix haben. Wenn eine das kann, dann sie: die Webweltmeisterin.
Worldwidewebmeisterin ist sie ja sowieso schon. Sie ist der Welt von zu Haus aus verbunden über das Internet. Dabei ist sie, wie Roland Koberg gerade treffend bemerkte, mit ihrer Webseite, die sie schon 1996 als eine der ersten überhaupt, aufgeschaltet hat, dem Web 1.0 treu geblieben. Dort stellt sie ihre Texte ein, über Web 1.0, nicht über Twitter und Facebook, meldet sie sich mit aktuellen Texten zu Wort zur politischen Lage der Welt. Gefällt-mir-Buttons sind ihre Sache nicht.
Eigentlich schön, das ausgerechnet das Theater, diese nicht-virtuelle Kunstform, neben dem Internet Elfriede Jelineks Bühne und Multiplikator ist.
Auch dass ihre WINTERREISE nächste Spielzeit an zehn großen Häusern nachgespielt wird, ist Ausweis ihrer Großzügigkeit. Angesichts der Fülle des Materials - in unser dreistündigen Uraufführung kam nur gut ein Drittel des Urtextes auf die Bühne - werden sicher zehn verschiedene Lesarten, zehn verschiedene Textfassungen entstehen.
Wir sind süchtig nach Elfriede Jelineks einzigartiger Sprache, nach ihrer Sprachwut, die immer auch Sprachkritik ist, nach ihrer Geistesgegenwart. Mit „Wir“ meine ich auch mich selber: Die Monate der intensiven Beschäftigung mit Elfriede Jelineks Texten während der Vorbereitungen und später in den Proben und Aufführungen gehören zu den beglückendsten in meinem Theaterleben. Mit „Wir“ meine ich auch und vor allem die Schauspieler. Und, wie ich hoffe, auch das Publikum. So jedenfalls, wie wir es hier in Mülheim bei der Aufführung vor ein paar Wochen erlebt haben, könnte es sein. Kurz: Wir sind dankbar für die Lebenszeit, die wir mit Elfriede Jelinek verbringen dürfen. Sie ist, auch wenn sie persönlich eine Verschwindende ist, für uns überaus präsent. Und wenn sie, wie bei der Generalprobe von WINTERREISE, auftaucht und mit ihrem Mann Gottfried Hüngsberg aus einer Loge zuschaut, wenn sie anschließend noch hinter der Bühne vorbei schaut um mit den Schauspielern zu reden und zu lachen, dann ist das ein sehr kostbarer Moment. Auch wenn wir zugleich den ganzen Probenzeitraum über das Gefühl hatten, sie sei anwesend. Für uns ist sie also immer auch abwesend anwesend. Wie heute. Hier.
Dank und Gratulation an Elfriede Jelinek.
Danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Julia Lochte
Mülheim, 26. Juni 2011