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Zu Katrin Langes "Freund Till, genannt Eulenspiegel"


“Ich werde mich an dich erinnern. Wie heißt du eigentlich?”

Das Theater für junges Publikum
Geschrieben von: Nina Heinrich und Nicole von Horst   
Dienstag, den 22. Mai 2012


“Nie mit beiden Beinen fest auf den Boden stehen!”, rät der Vater Claus (Andreas Jäger) seinem Sohn Till (Martin Winkelmann) kurz vor seinem mutmaßlichen Ableben durch die Hand des Raubritters Herrn Kunz, der Till sogleich entführt. Er wird auf der Burg des Herrn Kunz (Marko Werner) dem ebenfalls nicht freiwillig anwesenden Dienstmädchen Nella (Nina El Karsheh) zur Seite gestellt. Ebenfalls zur “Familie” gehören die Kriegsknechte Bock (Alisa Levin) und Klotz (Holger Foest), die aufgrund fehlender Angriffe von Feinden pure Staffage sind. Der Herr Kunz raubt ausschließlich arme Menschen aus, die sich nicht zur Wehr setzen würden.

Die Kostümierung (Linda Schnabel) ist sowohl hochmodern als auch ganz im Stile der mittelalterlichen Eulenspiegel-Zeit, erdfarben und auf gewisse Weise “vintage”. Dazu kommen davon abweichende Elemente, beispielsweise ein Leoparden-Jäckchen und rote Querstreifen zum Kettenhemd. Der Herr Kunz ist ein Räuber und Mörder, die Kriegsknechte seine in gebückter Haltung kletternden oder kriechenden Schuhlecker; Nella, “die Frau” der Szenerie, wird von den drei anderen mit “Trutsche aus dem Kuhdorf” angesprochen. Die Theatralität, die sich hinter derart vereinfacht gezeichneten, vielleicht sogar klischeehaft angelegten Figuren verbirgt, wird bereits zu Beginn des Stückes durch eine Zirkussituation eröffnet: Die Studiobühne schmückt eine ebenfalls erdfarbene und karge Zirkusmanege, vor beweglichen runden Sitzreihen, rund um eine sehr kleine Drehbühne angeordnet, werden Tricks mit Feuer gezeigt. Die Darsteller, zu diesem Zeitpunkt noch in Zirkuskleider gehüllt, werden als die Truppe “Les Cornichons” angekündigt, einer von ihnen möchte zunächst nicht den Till spielen, bekommt dann allerdings eine “lustige” Pudelmütze aufgestülpt und ändert auf der Stelle seine Mimik. Ein Theater im Theater.

Auch im Laufe der daraufhin dargestellten Räuberrittergeschichte wird jene Eigenschaft des Stückes thematisiert, indem sich die Darsteller selbst mit “Nein, das war nicht gut. Noch einmal”, unterbrechen und überzogen theatralisch ihre Replik wiederholen. Verschiedene Geschichten des Eulenspiegels werden verknüpft und im Zusammenhang mit der neu gestalteten Szenerie in Verbindung gesetzt. Zum Beispiel die Entstehung des Namens, der sich einerseits auf die Schläue einer Eule und die Fähigkeit, anderen den Spiegel vorhalten zu können, bezieht, aber nach plattdeutscher Manier gelesen auch “Wisch mir ‘n Hintern” bedeutet; er entsteht dank Nella. Diese reagiert auch in der Tradition des Braunschweiger Brotbäckers, der auf Eulenspiegels Frage, was zu backen sei, “Eulen oder Meerkatzen” antwortet, was auch Till wortwörtlich ausführt. Nella rät ihm: “Schau dich im Spiegel an, dann weißt du, wie du heißen möchtest.” Die beiden küssen sich zur lautstarken Empörung der sehr jungen Zuschauer.

Außerdem ein wesentliches Element der Plot-Entwicklung um Tills Versuch, den machthabenden Raubritter Herr Kunz zu stürzen, ist die ans Märchen “Des Kaisers neue Kleider” erinnernde Geschichte um ein Portrait angelehnt. (“Die 27. Historie sagt, wie Eulenspiegel für den Landgrafen von Hessen malte und ihm weismachte, wer unehelich sei, könne das Bild nicht sehen.”) Das nicht sehr zeitgemäß anmutende Problem der Unehelichkeit schwingt sich mit dem aufgefrischten Motiv “fehlender Tapferkeit, ergo Feigheit” auf die Studiobühne. Die schlagfertige Umgangsweise mit der Beantwortung unmöglicher Fragestellungen (“Die 28. Historie sagt, wie Eulenspiegel zu Prag in Böhmen auf der Hohen Schule mit den Studenten disputierte und wohl bestand.”), sorgt schließlich dafür, dass die Mama vom Herrn Kunz Till zu dem neuen Burgherren bestimmt. In ihrer Rolle erscheint Andreas Jäger in einem pompösen Mantel aus Daunendecken und mit Fliegerbrille.

Über diese Odyssee, in der die Frage nach dem Tod des Vaters bis zum Schluss nicht sicher beantwortet wird, schickt die Autorin Katrin Lange (geb. 1942) auf Initiative Andreas Steudtners für das Junge Staatstheater Braunschweig eine bereits erfundene Figur von “schöner Borstigkeit”, wie sie selbst Till Eulenspiegel nach der Lektüre des Volksbuches wahrnimmt, in ein von ihr erfundenes Umfeld. Bei den "KinderStücken 2012" in Mülheim an der Ruhr konnten Kinder ab sechs Jahren nicht nur erleben, wie Eulenspiegel sich verliebt, sondern auch wie er zum Raubritter wird.

Die Inszenierung von Christopher Rüping setzt das “Spiel im Spiel” der Schauspieler, die Schauspieler darstellen, die wiederum Claus und Till Eulenspiegel spielen, gut und leicht verständlich um und führt die Kinder in Theaterbegriffe wie Prolog, Zwischenspiel und Bild ein, indem Regieanweisungen durch den sichtbaren Andreas Jäger aus dem Off gesprochen werden. Jonathan Mertz’ reduziertes Bühnenbild bietet einen wandlungsfähigen Raum für Zirkusmanege und Ritterburg in vielen Variationen.

Katrin Lange setzt sich mit der Frage nach Wirkungsweise und Wirkungsmöglichkeit des Theaters auseinander, wünscht sich ein Theater, das die Wirklichkeit nicht abbildet, sondern eine Gegenwelt bietet. Sie übersieht und unterschätzt dabei die Wirkung ihres eigenen Stückes in der Reproduktion von unterschwellig sexistischen und homophoben Bildern, die nicht hinterfragt, dekonstruiert oder aufgelöst werden, sondern nur die vorhandene gesellschaftliche Realität abbilden und hinnehmen.

Nella zum Beispiel funktioniert nicht als eigenständige Figur, sondern ist Hilfsmittel für die Entwicklung Tills, ihre eigenen Wünsche bestehen nur in Abhängigkeit anderer. Dass sie als Einzige Skepsis am unsichtbaren Portrait äußern kann, liegt an ihrer Stellung am Fuß der sozialen Hierarchie, daran, dass sie nichts zu verlieren hat. Wenn sie zu späterem Zeitpunkt Kritik an Till äußert, wird sie beworfen und lächerlich gemacht. Problematisch auch der Umgang mit Übergriffen: Sie wird von den Knechten gerufen und mit ihrem Handtuch verhauen, sie lacht zwar, sagt aber “Bitte nicht”; das wird nicht respektiert. Später zieht Till ihr den Rock hoch und die Unterhose runter. Obwohl ihr Unbehagen zu erkennen ist, spricht sie diese Grenzüberschreitung nicht an, sondern ist nur nicht damit einverstanden, dass Till jetzt ein Raubritter ist. Als sie ihm helfen will, lehnt er “das Mitleid einer Frau” ab; als die Mutter vom Herrn Kunz (sie wird mit schimpfender “Miss Piggy-Stimme als zickig karikiert) einen neuen Raubritter ernennen will, disqualifiziert sie Nella mit den Worten “Nella raus, Mädchen kommen nicht in Frage!” Dass Nella Till heiraten und seinen Namen annehmen will, ist eine Lappalie dagegen. Nur sie trägt bauchfrei und enganliegende Kleidung, ist von allen am nächsten an einer sexualisierten Darstellung. Es ist fraglich, inwieweit an Mädchen als Teil des Publikums gedacht wurde.

Der Bösewicht Herr Kunz wird durch feine Details in Kleidung und Tun effeminiert, in vielen Disneyfilmen gut erkennbares typisches Mittel (zum Beispiel König der Löwen; der Herr Kunz wirkt wie Scar, Klotz und Block wie seine Hyänen), um Schurken zu degradieren. Till küsst ihn, um ihn zu provozieren und zu beleidigen. Die Kinder im Publikum reagieren darauf mit “Iiiiih”-Rufen.

Das, und die (teils klamaukigen) Verrücktheiten, wird vielen Kindern aus u. a. animierten Filmen, Serien und anderem Medienalltag vertraut sein, ist also keine Anders-Welt. Besonders und neu ist für die Kinder wahrscheinlich nur, dass die dort bereits vorkommenden Verrücktheiten und der Klamauk an dieser Stelle von Menschen dargestellt werden; es gibt echtes Feuer, Till zeigt seinen nackten Po (gleich dreimal!), es gibt eine Kuchenschlacht, Ohrfeigen, Wassereimer über Köpfen, und als Akt der Rebellion die typischen eulenspiegelesken Scherze und Wortwörtlichkeiten Tills, die ein großer Spaß für die sehr investierten Besucher sind, die nach Zugabe rufen und mit den Füßen donnertrommelnd applaudieren. Schön, wie wörtlich auch der Rat seines Vaters im Stück umgesetzt wird. Till flieht, gemeinsam mit Nella, dem Herrn Kunz und den Knechten über ein Seil, alle mit beiden Beinen vom Boden abgehoben.