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Zu Schramm/Ziesers"Lottes Feiertag oder wie Joseph zu seiner Ohrfeige kam"


Brüderküsse sind die kratzigsten. Tag fünf der Mülheimer KinderStücke 2012

Geschrieben von Marie-Hélène Nille-Hauf

Mummpitz mit eigener Stückentwicklung im Wettbewerb

Erst mal nachschauen was Mummpitz bedeutet; aha - Schwindelei, Unsinn.
Auf der Recherche danach, stoße ich sowohl auf die umgangssprachliche Verwendung „Mach keinen Mummpitz – Kehr wieder zur stringenten Ordnung zurück“ und auf die sorgsam ausgestattete Homepage der freien Theatergruppe Mumpitz mit einer eigenen Spielstätte in Nürnberg.

Als einzige Produktion wurde in diesem Jahr, neben den dramatischen Texten einzelner Autoren, diese Stückentwicklung eingeladen; das heißt Sabine Zieser und Michael Schramm spielen den von ihnen gemeinsam geschriebenen Text auch selbst, Regie führte Andrea Maria Erl. Diese äußert sich zur Arbeitsform des Mummpitz Theaters in einer Expertenrunde während den „KinderStücken 2012“ selbst: Es ist von Vorteil, wenn Menschen zusammen arbeiten können, die aufgrund ihrer schauspielerischen Erfahrung  in ihrem Beruf, sowie einangjährigen Arbeit innerhalb einer Gruppe, fähig sind, Texte für die Bühne entstehen zu lassen.
Mit ihren Kindertheaterproduktionen fliegen sie nun auf Theaterfestivals ins Ausland, übersetzen ihre Stücke in die englische Sprache.
Die sich selbstverwaltende Gruppe aus Nürnberg, bestehend aus einem guten Dutzend, formierte sich vor 31 Jahren. Die Vorteile einer langjährigen Zusammenarbeit lässt ihre nach Mülheim eingeladene Produktion „Lottes Feiertag oder wie Joseph zur Ohrfeige kam“ erkennen.

Hinter Lotte und Joseph

Zwei der drei Hauptfiguren werden im Titel der Produktion bereits genannt:
Joseph (Michael Schramm) küsst Lotte (Sabine Zieser), weil er in der Zeitung gelesen hat, dass sich die Welt verändert, wenn zwei sich küssen. Er folgert; durch seinen Lotte aufgedrückten Kuss würde an ihm geschehenes Unrecht wieder ungeschehen gemacht werden. Doch gegenteiliger könnte es nach diesem Kuss nicht laufen. Lotte trifft`s, sie fällt auf dem Weg zur Geburtstagsfeier ihres 70-jährigen Großvaters (Thomas Stang) in einen  tiefen Brunnen und bleibt mit ihrem Fuß darin stecken. Die Feuerwehr kommt, eine Hauptwasserleitung explodiert, das Wasser fließt in den Brunnen und Lotte droht durch das ansteigende Wasser zu ertrinken. Was tun? Der Kuss zu Beginn treibt Joseph nun an nach Rettungsideen zu suchen. Aufgelöst werden könnte das Problem durch die weltverändernden Nebenwirkungen des Kusses. Zumindest auf der Theaterbühne könnte dieser nun die physikalischen Gegebenheiten verändern, indem der Parameter Zeit rückwärts gedreht werden würde. Davon singen die Schauspieler zunächst noch einmal ein Lied. Als szenische Handlung sehe ich daraufhin, dass Joseph kopfüber vom Großvater mit einer Angel in den Brunnen gehängt wird um Lotte herauszuziehen. Die Zuspitzung von Lotte`s Problem, womöglich in jungen Jahren im Brunnen zu sterben, ist der Höhepunkt der dramatischen Spannungskurve, aber in seiner möglichen Auflösung dann schnell und unklar gebaut, der parabelhafte Clou geht nur bedingt auf oder fällt im Gegensatz zum Rest ein wenig ab.

Mehr noch als der dramatische Text und die darin befindlichen Wortwitze, laden die gekonnten Darstellungspraxen der Theaterschaffenden ein in eine einfallsreiche Bildwelt, versehen mit einer Reihe schlagartig erhellender Situationen. Bernhard Studlar, Autor und Jurymitglied 2012, umreißt die Eigenschaft der Produktion, beschreibt deren Wirkung, indem er vom Malen poetischer Bilder spricht. Affirmativ hinsichtlich dessen Beschreibung erscheint mir vorallem der dramatische Text in die Möglichkeiten des szenischen Spiels und der Erschaffung findiger Bilder eingeordnet worden zu sein. Vermutlich sind die Besonderheiten der Zuschauerwahrnehmung des Kinderpublikums durch die langjährige Erfahrung der Theaterschaffenden bei der Entwicklung des dramatischen Textes vorrangig gewesen. Zu Beginn der Vorstellung können sich alle Zuschauer:innen für die Geburtstagsfeier des 70-jährigen Großvaters ein Kleidungsstück aussuchen, dann selbst verkleidet in den Zuschauerreihen Platz nehmen. Ein anderes Beispiel sind einzelne Szenen, die auf die wertgeschätzte Mitarbeit der Zuschauer:innen angewiesen sind um als Szene überhaupt erst funktionieren zu können. Das ist ein gelungener, motivierter Imperativ zur Partizipation, der allerdings im Anschluss an diese Szenen von den Schauspielern einiges an Arbeit abverlangt um die Masse an ausgestreckten Zeigefinger mit Partizipationswillen zu bändigen.

Im Vergleich zur sprachlichen Dichte anderer Stücke des Wettbewerbs, ermöglicht diese Produktion weniger Spielraum um mit den Wirkungsweisen von Sprache zu spielen, mithilfe ihrer etwas anzudeuten oder zu schichten. Die Sprache ist hier untergeordneter Teil eines poetischen Kinderstücks, spannend wäre es, wie sich diese und zukünftige Produktionen durch einen spezialisierten, zusätzlichen Fokus eines Autors verändern kann.

Antonio, der Feuerwehrmann

Während der Jurydiskussion zur Preisverleihung des mit 10.000 Euro dotierten KinderStückePreises für den:die beste:n Autor:in, wurde in nur wenigen Nebensätzen über die standardisierte Darstellung eines Feuerwehrmannes und eines Italieners im Kindertheater gesprochen. In der Erzählung um Lotte und Joseph gibt es den italienischen Antonio, der zusätzlich auch noch Feuerwehrmann ist: diese Re-Inszenierung von zwei leicht wiedererkennbaren Figuren wirkt als Überschneidung in der neuen Figur „Antonio, dem Feuerwehrmann“ auf mich überraschend vielversprechend, eben durch die Komposition bestehender, klischeebehafteter Zitate.

In seinem Abschlussplädoyer während der finalen Nominierungsrunde für den diesjährigen Gewinner, fügte ein Jurymitglied mit seiner Nominierung des Stücks „Lottes Feiertag“ wortwörtlich seinen Willen zur kulturpolitischen Zeichensetzung mit an.
Wenn aber z.B. auch Nachspielbarkeit ein Kriterium für einen gelungenen dramatischen Text des Kindertheaters darstellt, liegt die Frage nach gegenseitiger Abhängigkeit zwischen dem dramatischen Text und den Entwicklern / Spielern bei „Lottes Feiertag“ nahe. Wie sehr ist deren Text auch an sie selbst gebunden?

Bei den Mülheimer „KinderStücken 2012“ für den besten, neuen literarischen Kindertheatertext gewinnt die poetisch umgesetzte Stückentwicklung der freien Theatergruppe Mummpitz nicht. Die Beschäftigung mit dieser Theatergruppe impliziert die Fragestellung, in welchen veränderten Arbeitsmodellen der Theaterwelt der Autor integriert werden kann. Wer und unter welchen Bedingungen lässt sich auf diese Veränderung ein? - Die Möglichkeit zum aufsehenerregenden politischen Bruderkuss besteht.