Warum für Kinder schreiben?


Wenn ich nach meinem Beruf gefragt werde und sage, dass ich Geschichten für Kinder schreibe, reagieren die Leute so:

- Oooooh, das ist aber schön!

- Sie fragen: Haben Sie viele Kinder?

- Ich sage: Nein.

- Ach. Arbeiten Sie mit Kindern? Sind Sie Erzieherin?

- Nein.

- Ahh. Dann malen Sie die Bilder in den Kinderbüchern?

- Besser nicht.

- Kriegen Sie dann so Vorgaben, dass drinstehen muss, wie die Kinder sich richtig benehmen sollen? Nicht bei Rot über die Ampel, nicht Scheiße sagen...

- Oh, Nein.

- Ach, dann schreiben Sie den neuen Harry Potter und verdienen so viel Geld wie diese... wie heißt die noch?

- Nein, das eigentlich auch nicht.

- Aha. (Jetzt kommt eine Denkpause und dann:) Haben Sie auch vor, später mal was Richtiges zu schreiben?

 

Irgendwie fällt mir da keine gute Antwort ein. Es ist nicht so, dass ich sieben Kinder zuhause hätte, denen ich abends eine Geschichte erzähle, diese am nächsten Tag aufmale – und fertig ist ein Buch.

Es ist auch nicht so, dass ich meine Aufgabe darin sehe, Kinder zu bespaßen.

Noch weniger, dass ich meine Aufgabe darin sehen würde, Kinder zu erziehen.

 

Max Frisch hat gesagt: Gäbe es die Literatur nicht, liefe die Welt vielleicht nicht anders. Aber sie würde anders gesehen, nämlich so, wie die jeweiligen Nutznießer sie gesehen haben möchten: nicht in Frage gestellt. (...) Als Stückeschreiber hielte ich meine Aufgabe für durchaus erfüllt, wenn es einem Stück jemals gelänge, eine Frage dermaßen zu stellen, dass die Zuschauer von dieser Stunde an ohne eine Antwort nicht mehr leben können - ohne ihre Antwort, ihre eigene, die sie nur mit dem Leben selber geben können.

 

Dem möchte ich mich gerne anschließen, darin sehe auch ich die Aufgabe von Literatur und meine Aufgabe als Autorin sei zu versuchen, so etwas hinzukriegen. Genre und Alter des Publikums ist dabei zweitrangig.

 

Stellen Sie sich folgende Geschichte vor: eine zickige Karrierefrau und ein sensibler Arbeitsloser werden versehentlich eingesperrt und müssen eine Stunde auf engem Raum miteinander verbringen. In dieser Begegnung entlarvt sich, welche wirklichen Menschen hinter ihren Klischeefassaden stecken.

Diese Geschichte könnte man als Krimi erzählen: die beiden stecken in einem Aufzug, aus dem am Ende Blut tropft, weil nur einer von ihnen diese Stunde überleben konnte.

Oder als romantische Komödie: die beiden sind versehentlich in einen Heißluftballon gefallen, dessen Schnüre sich zufällig gelöst haben. Während des Flugs entpuppt sich der Hausmeister als poetischer Naturkenner und die strenge Frisur der Unternehmensberaterin löst sich im Fahrtwind auf, bis es zum Kuss über den Wolken kommt.

Oder man erzählt die gleiche Geschichte als Kinderstück: zwei Klassenkameraden sind in der Schultoilette eingesperrt. Am Ende ihrer Grundschulzeit.

 

Ich habe mich für das Genre der Kinder- und Jugendliteratur entschieden.

WARUM? Ja, warum ...

Vielleicht, weil ich das Ende der Grundschulzeit die stärkste Setzung finde, um darüber zu erzählen, wie Menschen in Schubladen einsortiert werden.

Weil ich das Publikum im Grundschulalter liebe.

Weil ich das Bedürfnis habe, diesem Publikum eine Möglichkeit zur Reflexion zu geben. Vielleicht, weil ich glücklicherweise das Talent bekommen habe, mich in Kinder hineinzuversetzen und es mir deswegen vergleichsweise leicht fällt. Leichter als Krimi jedenfalls. ;-)

 

Aber warum eigentlich fragen: warum?

 

Muss man sich dafür erklären, wenn man Kinder- und Jugendliteratur macht, weil es keine „richtige“ Kunst sei? Betrachtet man die Besprechungen in den Feuilletons, in Fernsehzeitungen, betrachtet man die Verteilung der öffentlichen Kulturtöpfe oder betrachtet man Tantiemen und das Renommee der Kreativen, könnte fast so ein Verdacht aufkommen. Denn für Kinder- und Jugendkultur gibt es von allem weniger, so wie bei einem Pinocchio-Teller im Restaurant.

 

Warum ist das so?

Und warum sollen Kinder alles oft grell und bunt bekommen, voller Quatsch, Kitsch und Klischees? Sie leben doch nicht in einer Parallelwelt, die so aussieht wie das Bällebad bei IKEA. Die großen Themen unserer Zeit beschäftigen Kinder genauso wie Erwachsene: Angst vor Armut, Umweltverschmutzung, Krieg, Beziehungs- und Familienkrisen und so weiter.

Was wir als Kinder erlebt haben, prägt unsere Gegenwart als Erwachsene. In der Dramaturgie des Lebens ist die Kindheit der Anfang, hier werden die Geschichten ausgelöst. Man kann sie nicht vom Rest des Lebens abkappen, so wenig wie man bei einer Geschichte den Anfang wegschneiden kann.

Wolfram Höll schildert in seinem Stück „Und dann“ eindrücklich für Erwachsene eine Kindheitserinnerung, Kindheit ist also Stoff für „Erwachsenenkunst“. Das kann  genauso auch andersherum gelten: das Handeln von Erwachsenen kann Stoff sein für „Kinderkunst“.

 

Ich finde es schon in Ordnung, dass es Geschichten gibt, die nur für Erwachsene sind. Und dass es welche gibt, die die Kinderperspektive einnehmen. Nur finde ich es schade, wenn im einen Fall von Kunst die Rede ist, während man im anderen nur pädagogisches Material sieht.

 

Darum frage ich: Warum nicht?

Warum nicht  einem jungen ernsthaften Publikum ernsthafte Kultur gönnen? Sie kann ja trotzdem lustig sein.

Warum nicht sich für Neunjährige mit den unglücklichen Gefühlen eines Neunjährigen auseinandersetzen, bevor daraus Neurosen wachsen?

Warum nicht eine Kapitalismuskritik aus der Sicht von Zehnjährigen üben?

Warum nicht Fragen auf die Bühne holen und auch einem elfjährigen Publikum zutrauen, dass es selbst Antworten findet, so wie Frisch es beschrieben hat.

 

Und darum: DANKE an die Mülheimer Stücke, Stefanie Steinberg und ihr ganzes Team. Für ein spannendes Programm ohne dümmliche Bespaßung und ohne Erziehung. Dafür, dass ihr vor vier Jahren die Kinderstückesparte eingerichtet habt, dass ihr das Kindertheater in die Feuilletons und an das Publikum bringt.

DANKE an Marion Victor für 30 Jahre unvergleichliches Engagement für das deutschsprachige Kindertheater. Ich bin sehr glücklich, dass du mich bei meinem ersten Theaterstück an die Hand genommen hast!

DANKE an das Grips Theater dafür, dass ihr in meiner Kindheit da wart. Und dafür, dass ihr meinen Text auf eure Bühne gelassen habt.

Natürlich: Vielen DANK an die Jury. Die Auszeichung ist mir eine sehr, sehr große Ehre.

Und nicht zuletzt auch Danke für das Preisgeld.

 

Denn die zweite Frage, die Leute mir stellen, wenn sie meinen Beruf erfahren haben, ist: Kann man denn davon leben?!

 

Mülheim, 22.6.14