Laudatio KinderStücke 2015

















 

Sehr geehrte Frau Referatsleiterin,
sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin,
sehr geehrte Damen und Herren,

es ist eine Freude vor Ihnen sprechen zu dürfen.
Worum geht es bei einer Laudatio. Ein Stück zu loben? Den Autor zu preisen?
Als ich mich auf den heutigen Tag vorbereitet habe, waren mir zugegebenermaßen Rahmen und Format lange eher unklar: Herzliche Glückwünsche? Sonntagsrede? Impuls-Referat?

(Ich habe schon einige Laudationes halten dürfen, aber) im Unterschied zu vielen anderen Preisenn und Wettbewerben steht der Sieger heute schon fest. Für mich ist das erst einmal recht komfortabel, weil es weniger zu beschreiben und zu bewerten gilt. „Dreier steht Kopf“ ist hier in Mülheim gespielt worden und darüber, warum Carsten Brandau für dieses Stück den Kinderstücke-Preis bekommt, ist öffentlich debattiert und letztlich schon alles gesagt worden – wenn auch noch nicht von allen.

Carsten Brandau hat mich als Laudator vorgeschlagen – wir haben in den letzten eineinhalb Jahren intensiv gemeinsam an einem Stück gearbeitet, das Mitte Oktober in Aalen/ Württemberg Premiere haben wird – und seitens des Stücke-Festivals hat man mir signalisiert, ich solle ruhig etwas mehr über den Autoren sprechen.

Ich nehme das als Gelegenheit, um persönlich - als Leser und Zuschauer, Dramaturg und Regisseur – etwas über Carsten Brandau zu sagen. Wobei ich natürlich doch auch über das Stück bzw. über seine Stücke noch ein paar Worte loswerden möchte.

Der Ordnung halber, denn um Ordnung geht es ja auch in „Dreier steht Kopf“ habe ich meine Ausführungen numerisch gegliedert: Eins, Zwei, Drei.

Eins: Der Autor.

Carsten Brandau ist ein Autor bis hin zum Klischee eines Autors. Er ist kein schreibender Dramaturg, kein schreibender Pädagoge, wie man sie gerade im Kindertheater auch oft findet, der Themen spielfertig für die Bühne aufbereitet, kein Zulieferer des Theaterbetriebs. Auf der Website seines Verlages sind 14 Stücke gelistet, von denen die Hälfte noch nicht aufgeführt worden sind. Der Betrieb tut sich schwer mit Carsten Brandau, der sich aber – das muss fairerweise gesagt werden – auch schwer tut mit dem Betrieb, bzw. ganz grundsätzlich mit allen Systemen und Strukturen, die so tun, als würden sie funktionieren und wären schon „in Ordnung“ so.

- Ich habe den Autor Brandau erlebt, der die „Ideal-Besetzung“ für ein Stück in Frage stellte – gerade weil sie ihm zu naheliegend schien.

- Ich habe in der Entwicklung eines Stückes dem Autor Carsten Brandau einen wirklich kleinen Änderungsvorschlag gemacht und am nächsten Tag ein komplett neues Stück bekommen, was meine sämtlichen Pläne und Absichten über den Haufen geworfen hat.

- Ich sehe ihn vor mir, wie er zusammenzuckt, weil eine Schauspielerin bei einer Leseprobe seine Wortschöpfung „habalahablahabala“ als Sprungbrett für ein hingenuscheltes (aber gefühlvolles!) hawalablaschhaschwasch (oder so ähnlich) benutzte.

- Ich habe von Schauspielerinen und Schauspielern gehört, die seine Texte gehasst haben, weil sie so scheinbar verkopft und wenig mundgerecht daher kamen.

Carsten Brandau schreibt keine Spielvorlagen, sondern Stücke, die gesprochen werden wollen und mit denen man, da bin ich sicher, ziemlich viel Spaß haben kann – wenn man genau ist!

Das belegen übrigens auch die Kommentare auf der Internetseite „Nachtkritik“, sonst oft von Häme und Besserwisserei geprägt, die für den Autor Brandau nur gute Worte übrig haben, ich zitiere: „Gratulation!“ „Nicht nur lesen, auch sehen!“ „Liebe Frau Brandau, Herzlichen Glückwunsch und wir freuen uns sehr für Sie und auch auf unsere kommende Premiere!“ Was es mit 'Frau Brandau' auf sich hat, dazu später mehr.

Zwei: Stücke. (Nicht das Festival, sondern Texte von Herrn Brandau)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, für die ich – entsprechend einer Regieanweisung aus einem Stück von Carsten Brandau – im folgenden der Einfachheit halber nur die weibliche Schreibweise bzw. Anrede benutzen werde, meine sehr verehrten Damen, kennen Sie das Spiel „Verkehrte Welt“ ?

Dieses Spiel war z.B. zu Kindergarten-Zeiten für meinen Sohn und meine Tochter ein echter Hit. Gerade erst gelernte Regeln werden ins Gegenteil verkehrt, es wird mit den Händen gegessen, leise wird laut, die ersten werden die letzten sein.

Eigentlich verliert dieses Spiel nie seinen Reiz, auch wir Erwachsenen können es spielen und manchmal berühren sich die „verkehrte“ Welt und die „richtige“ und es ergeben sich überraschende, nie gewesene Dinge: eine Mauer fällt, ein Afroamerikaner wird Präsident der Vereinigten Staaten…

Die Stücke von Carsten Brandau, die übrigens nicht für Kinder, sondern für Kinder und Erwachsene geschrieben sind, geben mir die Mittel für dieses schöne Spiel an die Hand. Genaue Beobachtung,Frage, Schlussfolgerung, Konsequenz.

Wenn ich hier nicht vor ihnen stünde, sondern auf einem Ast säße, wäre ich dann ein Vogel?

Regieanweisung: Sie stürzen zu Boden. Der jetzt der Himmel ist.

Meine sehr verehrten Damen, kann man in den Himmel stürzen? Keine Schwerkraft! Carsten Brandau dreht die Welt auf den Kopf und stellt sie zurück auf die Füße. Philosophen wissen, was das heißt.
So verrätselt wie sich das jetzt anhören mag, so schlüssig und klar wird es in „Dreier steht Kopf“ entwickelt.

Als Mitglied in der Jury für den Deutschen Kindertheaterpreis 2012, die über das Stipendium zu entscheiden hatte, mit dem diesem Stück dann in die Welt geholfen wurde, ist mir „Dreier steht Kopf“ zuerst als Konzept begegnet.

Unter den ca. 150 Theaterstücken, die für den Preis zu lesen waren, gab es einige, die sich mit Zahlen, vielleicht auch mit Zahlen-Werten oder -Gruppen beschäftigt haben, aber nicht eines hatte den Witz, nicht eines die radikale Konsequenz in der Verbindung von Zahl, „Wert“ und hierarchischer Ordnung und auch keines - wie ich heute ergänzen kann - die sprachliche Eleganz, die „Dreier steht Kopf“ für mich auszeichnet.

Im Oktober berichtete dann eine Jury-Kollegin, die die szenische Erprobung des Textes beim „Boxenstopp“-Festival in Leipzig besucht hatte, von tumultartigen Szenen im Kinderpublikum, das sich die von der Figur Dreier provozierte „Unordnung“ nicht gefallen lassen wollte. DAS klang nun freilich SEHR viel versprechend...
Carsten Brandau, der in Leipzig natürlich auch dabei war, hat mir gestern noch erzählt, wie nach Stückende Kindergruppen das Theater verließen und dabei „Eins, zwei, drei“, „Eins, zwei, drei“, „Eins, zwei, drei“ skandierten. Eine zweite Revolution in Leipzig war erstmal verschoben, so leicht lässt sich der Osten nicht durcheinander bringen.

Die Uraufführungsinszenierung von Rob Vriens, die ich in Frankfurt sehen konnte, hat keine Tumulte ausgelöst, aber in überzeugender Weise dem Rhythmus und der Musikalität des Textes Tribut gezollt. Optisch ist mir zu den drei schrägen Vögeln auf der Bühne die orientalisch anmutende Kopfbedeckung von „Dreier“ besonders präsent. Es war ein Fez, den ich dramaturgisch beflissen gleich als Zeichen für einen Migrationshintergrund gedeutet habe – „der 'Neuankömmling' als Störenfried/ Bereicherung im gesellschaftlichen Diskurs“ oder so ähnlich, Sie verstehen schon...für Regieakzente und Interpretationen bietet, der Text trotz der gebotenen Genauigkeit jedenfalls auch viel Raum.

In einer längeren Ausführung zur Gegenwartsdramatik hat kürzlich Thomas Oberender von den Berliner Festspielen, der noch in der Saison 2013/2014 mit der Ausladung bzw. Nichteinladung von AutorInnen zum Berliner Stückemarkt in der Szene ein mittleres Erdbeben ausgelöst hat, konstatiert, dass der „klassische“ dramatische Text als Repräsentation von Wirklichkeit seine Wichtigkeit behalten wird.

Wer wissen will, wie das bei Carsten Brandau im Abendspielplan funktioniert, hat hier in NRW z.B. am Schlosstheater in Moers dazu Gelegenheit, dort läuft ab September als Wiederaufnahme FABELHAFTE FAMILIE BAADER. Andreas Baader und seine Frau Gudrun als konsumgeiles Aufsteigerpärchen, gehen gelenkt von der Figur Carsten Brandau, der Baader als Sekretärin zugewiesen wurde ('Frau Brandau'), auf einen surrealen Trip. Das Stück speist sich u.a. aus Daten deutscher Geschichte, der popkulturellen Rezeption der RAF und Hollywood-Filmen wie John Woos FACE OFF. Schnelle Autos spielen eine Rolle und vor allem künstliche Körperteile wie in übrigens vielen Brandau-Stücken. Der Text ist schnell, verstörend und für mich unglaublich komisch. Unsere sogenannte Wirklichkeit, die hier repräsentiert wird, sie steht auf schwankenden Füßen.

Drei: Stücke – (Das Festival. Der Preis.)

Meine sehr verehrten Damen, wir gehen in die Zielgerade, jetzt kommt der Sonntagsreden-Teil.

Um einen Autor aufzuwerten schadet es sicher nicht, den Preis aufzuwerten, den er bekommt. Also lassen Sie mich sagen: Der Kinderstücke-Preis ist der wichtigste Preis, den der Autor Carsten Brandau bisher bekommen hat. Hier wurde ja kein vielversprechender Text ausgezeichnet, sondern ein Text mit Aufführung, ein Doppelpack gewissermaßen, ein Stück, dass sich auf der Bühne beweisen musste.
Sicher auch ein Grund, weshalb sich der Kinderstücke-Wettbewerb binnen fünf Jahren zu einem wichtigen Gradmesser zum Stand der Gegenwartsdramatik für junges Publikum entwickelt hat.

Viele Stücke, die hier in Mülheim gezeigt und ausgezeichnet wurden, verdanken ihre Existenz anderen Wettbewerben und Förderprogrammen, erwähnt seien als Beispiele das „Nah dran“- Stipendium des Kinder- und Jugendtheaterzentrums, der Berliner Kindertheaterpreis am GRIPS Theater und das schon erwähnte Stipendium zum Deutschen Kindertheaterpreis, von dem auch „Dreier steht Kopf“ profitiert hat.

Jedes dieser Programme ist eine Investition in die Zukunft. Die Zukunft steckt nicht allein im Internet und technischen Visionen, für mich birgt die Sprache die größten Potenziale, Welten zu erschaffen und neu zu entdecken: Worte als Orte, Futter für die Fantasie.
In den Kindergärten und Schulen, den wichtigsten Zukunftsorten unserer Bildungsrepublik Deutschland, sind sprachliche Defizite eine der größten Herausforderungen für die Entwicklung unserer Kinder, mithin der Gesellschaft. Damit Sprache nicht nur Verkehrsmittel ist, sondern Spielwiese wird, brauchen Kinder Theaterstücke und ich meine gerade auch Stücke wie „Dreier steht Kopf“.

Diese großartigen Stücke müssen aber auch gespielt werden. Von Aalen bis Zwickau (und weil heute Andreas Beck hier ist möchte ich für die Schweiz ergänzen: von Basel bis Zürich.) Ich habe bei Verlagen der Vorjahrespreisträgerinnen und -Preisträger nachgefragt. Mit dem Kinderstücke-Preis geht eine signifikant erhöhte Bestellung der prämierten Texte einher, zur Aufführung kommt es aber noch zu selten.

Mit dem Kinderstücke-Preis 2015 ist ein Werkauftrag für ein neues Stück verbunden, der die Preissumme glatt verdoppelt. Wenn die Uraufführung in NRW erfolgt ist, werden wir den Text hoffentlich in Mülheim wiedersehen, am schönsten wäre es wenn ein Stadttheater, ein Staatstheater, eine Landesbühne und ein freies Theater mit jeweils eigener Aufführung um die Einladung konkurrieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frau Ministerin erwartet ein „Return of Investment“.

Zum Abschluss für Dich, lieber Carsten, ein alter Kinderreim: Was sollen wir machen? – Auf dem Kopf stehen und lachen!
„Time is money“ hat Benjamin Franklin gesagt, Deine Hamburger Autorinnenkollegin Karen Köhler hat daraus den schönen Umkehrschluss „Money is time“ gezogen. 20.000 Euro Zeit, um auf dem Kopf zu gehen, den Himmel unter den Füßen, und anderen den Kopf zu verdrehen. Herzlichen Glückwunsch zu diesem Preis, dem Preisgeld und dem Schreibauftrag! Drei, zwei, eins, Deins. Danke schön.


Winfried Tobias, Leiter des Kinder- und Jugendtheaters am Theater der Stadt Aalen, Laudatio für Carsten Brandau, „Dreier steht Kopf“ beim Kinderstücke-Preis 2015, Mülheim