17. Mai 2016 •
Auf den Tischen des Theaterfoyers liegen weiße Zettel, auf denen Auszüge aus dem Stücktext abgedruckt sind. So wird auch denjenigen, die den Text nicht gelesen haben, ein Einblick in Hölls spezielle Schreibmanier ermöglicht und gleich noch einmal klargestellt, dass zwischen Text und Inszenierung ein gewisses Spannungsverhältnis besteht. Die minutiös gefeilte Sprache Hölls lässt nämlich eigentlich sehr viel Raum für Interpretationen und verschiedene Lesarten.
Entschiedene Inszenierung – gespaltenes Publikum
Regisseurin Thirza Bruncken muss also zunächst einmal erläutern, wie die eindeutige Lesart des Schauspiel Leipzig zu Stande kam. Die Arbeit mit diesem Text habe zunächst „in großer Freiheit“ begonnen. Gemeinsam mit dem Ensemble habe sich die Regisseurin mit verschiedenen Bezugssystemen beschäftigt (pränatale Diagnostik, Verhältnis von Mensch und Tier, Verhältnis von Mensch und Raum, Heimat). Nach und nach habe sich so ein ganz bestimmter Zugang zu Hölls Werk geöffnet. Dramaturg Torsten Buß fügt hinzu: „Ich war beindruckt davon, wie intensiv das Ensemble an verschiedenen Atmosphären gearbeitet hat. Immer wieder wurden einzelne Szenen in unterschiedliche Atmosphären getaucht. Es begann eine intensive Suche.“ Während dieser Suche habe man Ideen gesammelt, ausprobiert, verworfen oder beibehalten.
Stimmen aus dem Publikum zeigen, wie stark die Meinungen in Bezug auf die eindeutige Lesart der Inszenierung auseinandergehen. „Die Präzision des Textes ist unglaublich, leider geht die hohe sprachliche Sensibilität in der doch allzu lauten Inszenierung unter“, meint eine ältere Dame und bekräftigt ihre Argumentation mit Textbeispielen. Ihr Tischnachbar dagegen äußert sich begeistert: „Die Inszenierung bebildert Hölls künstliche Sprache in einer genauso künstlichen Darstellungsweise.“ Andere sind noch zu mitgenommen von der Intensität der Darbietung, um sich eine klare Meinung bilden zu können.
Abwesender Individualist
Das größte Defizit des Publikumsgesprächs ist wohl die Abwesenheit Hölls, der auf Grund einer Hörspielproduktion kurzfristig absagen musste. Trotzdem schafft es seine Vertretung Nina Peters, Verlegerin im Suhrkamp Verlag, einen Eindruck von der Persönlichkeit des Autors zu vermitteln. „Hölls erstes Manuskript, das mir im Verlag vorlag, beeindruckte mich sehr und ich ließ es den Autor sogleich wissen. Daraufhin bat er mich, zusammenzufassen, was in diesem Stück passiert. Offenbar war ich eine von zwei Personen, die den Inhalt verstanden hatte.“ Das habe Höll überzeugt. Er habe sich nach geraumer Zeit per Postkarte („altmodische“ Medien scheint der auf Schreibmaschine schreibende Autor zu mögen) zurückgemeldet und Nina Peters mitgeteilt, dass er gerne Autor des Suhrkamp Verlags werden wolle. Diese Anekdote sorgt zu Recht für Erheiterung im Publikum und lässt den ein oder anderen verstehen, dass Wolfram Höll ein außergewöhnlicher Autor ist, der genau weiß, was er tut.
Nachdem Michael Laages – ausgehend von den musikalischen Einlagen der Inszenierung – mit Spekulationen über die moderne Diskothekenszene für allgemeine Erheiterung gesorgt hat, wird es gegen Ende des Gesprächs noch einmal sehr persönlich. Ein Vater, dessen Tochter an Trisomie 21 leidet, ergreift das Wort und erläutert sein persönliches Schicksal auf detaillierte Weise. Er berichtet von Schmerz, seiner gescheiterten Ehe und dem Gefühl, in einer klaustrophoben Situation gefangen zu sein. Durch seine Sonderstellung als Betroffener habe er die Inszenierung mit anderen Augen gesehen, vieles nachempfinden und auf sein eigenes Leben übertragen können. So gelingt es ihm, einer offenbar leicht verwirrten Thirza Bruncken deutlich zu machen, dass ihre Inszenierung Raum für Interpretationen bietet, die sie selbst vorher nicht gesehen hat. Die Stammesgesänge der Inuits im zweiten Teil zum Beispiel wurden von einem Zuschauer für Lautäußerungen des Kindes gehalten. Da stellt sich am Ende die Frage, ob die Lesart des Schauspiel Leipzigs wirklich so eindeutig ist, oder ob nicht auch da verschiedene Interpretationsansätze möglich sind.