Die da oben, wir hier unten


Diskurs

Es ist ein heißer Donnerstag, dieser 27. Mai 2017. Draußen vor dem Ringlokschuppen sonnen sich Menschen auf den fast verbrannten Grünflächen. Drinnen herrschte bis gerade gechlorte Kurbadkühle, die Schauspieler sind nach der letzten Verbeugung in die Katakomben des Hauses verschwunden und langsam leert sich der Saal. Da erhebt ein Herr mit knallrotem Volksbühne-T-Shirt sich und seine Stimme: Direkt im Anschluss an diese Vorstellung sei eine zweite angesetzt, worauf sich die Schauspieler und das Team des Theaters vorbereiten müssten. Ihnen fehlte also die Zeit, um am Publikumsgespräch teilzunehmen. Außerdem stehe aus organisatorischen Gründen der Saal, der normalerweise für das Gespräch nach dem Stück genutzt wird, nicht zur Verfügung. Bestürzte Blicke einiger Zuschauer. Fällt etwa das Publikumsgespräch aus?! Darf es das?! Doch der Sprecher, es ist natürlich Moderator Michael Laages selbst, beruhigt schnell. Es gebe eine Ersatzlösung. Autor Ferdinand Schmalz, die Dramaturgin und er würden sich aufgrund des guten Wetters vor den Ringlokschuppen unter die Sonnenschirme setzen. Dort, auf Bierbänken, könnte man dann ein improvisiertes Gespräch in sommerlicher Atmosphäre führen. Und so findet das wohl ungewöhnlichste – weil gewöhnlichste, am wenigsten inszenierte – Publikumsgespräch der Mülheimer Theatertage statt: Alle Beteiligten, egal ob Theatermacher oder Zuschauer, sitzen zusammen in einem großen Viereck, Club Mate oder ein Bierchen schlürfend.

Sonst bietet sich dem Besucher der berühmten Mülheimer Publikumsgespräche ein gänzlich anderes Bild: Hat man nach der Vorstellung die Stufen zum Kammermusiksaal der Stadthalle erklommen, betritt man einen wegen seiner Akustik hochgelobten, karamellbraun getäfelten Saal, an dessen Kopfende auf einer Bühne Tische mit Namensschildern warten. Und genau hier beginnt das Problem. Natürlich kann man verstehen, dass bei einer solchen Veranstaltung möglichst alle Beteiligten gut sichtbar sein sollen. Dennoch ergibt sich allein durch den Umstand, dass Laages und die Autoren, Regisseure, Dramaturgen und Schauspieler auf diesem Podium Platz nehmen, eine schwer zu überbrückende Distanz zwischen Theatermachern und Theaterbesuchern. Ob gewollt oder ungewollt – es entsteht eine Hierarchie, ein Oben und Unten. Als Zuschauer fühlt man sich weniger als gleichberechtigter Teil eines Gesprächs, sondern eher wie bei einer Pressekonferenz, bei der bloß Informationen weitergegeben werden. Wo bleibt da der Raum für Diskussionen?

Kein leichter Job

Heute noch wird „Stücke“-Neulingen von den „legendären“ Gesprächen erzählt, bei denen alle Beteiligten wild diskutiert hätten, wahre Streitgespräche auf dem Podium wortreich ausgebrochen seien, das Publikum klar und deutlich Miss- oder Gefallen ausgedrückt habe. Das Publikumsgespräch, so liest man in der Presse, sei eine wichtige und wertgeschätzte Institution in Mülheim. Also muss es zumindest früher einmal möglich gewesen sein, den Graben zwischen Publikum und Podium zu überbrücken. Die Bedingungen hierfür herzustellen, wäre wohl die Aufgabe des Moderators. Oder vielmehr eine seiner Aufgaben, denn insgesamt ist seine Mission komplex: Er sollte alle Stücke gelesen, aktuelle Ereignisse und Stimmungen der deutschsprachigen Theaterlandschaft auf dem Schirm haben und über weiterführendes Wissen auch abseits des reinen Theaterdiskurses verfügen. Weiß Gott keine leichte Aufgabe – und Michael Laages hat sie auch in diesem Jahr wieder auf sich genommen. Da mag es hilfreich sein, dass er viele der gastierenden Theaterschaffenden persönlich kennt. Was er üblicherweise dann auch sagt. Diese Anekdötchen haben zwar nie wirklich etwas mit dem Thema zu tun, brechen aber durchaus schon mal das Eis. Bei den dann folgenden einleitenden Fragen formuliert Laages mit großer Kunst und Sorgfalt. Seine Interpretationsansätze sichert er akribisch ab, was oftmals und nicht immer zu seinem Vorteil dazu führt, dass er sehr viele Worte verliert, bis er überhaupt zur eigentlichen Frage vordringt. Davon mögen sich Befragte und Zuhörer mitunter erdrückt fühlen – zu oft kommt es vor, dass ihm ausweichend oder schlichtweg mit „Diese Frage verstehe ich jetzt nicht“ geantwortet wird. Besonders krass trat der Kontrast zwischen den Redebeiträgen von Moderator und Autorin Lepper beim Publikumsgespräch zu „Mädchen in Not“ zutage: Während Laages weit ausholte, reagierte Anne Lepper mit irritiertem, fragenden Blick und gab eine knappe, einsilbige Antwort. Weder Autorin noch Moderator schienen sich in dieser Situation wohlzufühlen Ist das der Zweck eines Publikumsgesprächs?

Da hilft es, sich noch einmal zu vergewissern, was überhaupt das Ziel des Formats ist: Die Möglichkeit, sich als Laie und Theaterliebhaber mit professionellen Theatermachern über ihre Werke auszutauschen, Rückmeldung zu geben, Weitergehendes zu diskutieren. Um schließlich – im besten Fall – mit einem Erkenntnisgewinn den Saal zu verlassen. Wie flexibel, spontan und reaktionsfähig muss ein Moderator dafür sein? Wieviel Stolz, Wortgeiz und Skepsis gegenüber Publikums- und Moderatorenfragen dürfen sich die Interviewten erlauben, bevor ihre Haltung zum Gesprächskiller wird? Und wie zuträglich ist eine Raumanordnung, in der einige wenige halbgöttisch auf dem Podium sitzen, während sich die normal sterblichen Kulturliebhaber kaum an sie heranwagen? Allzu oft hört man beim Verlassen des Raums: „Ach, das hätte ich gerne noch gefragt. Aber mit diesen Mikros, das traue ich mich nicht.“ Wer im Publikum eine Frage stellen will, muss dies durch ein Mikro tun, was ihm von den Angestellten der Stadthalle gereicht wird. Auch das ist offenbar nicht gerade hilfreich, um die Distanz zwischen Theatermachern und den Besuchern zu überbrücken.

Nahbarer Banknachbar

Dass es anders funktionieren kann, zeigte der Donnerstagabend: Nachdem Michael Laages ein paar einleitende Worte gesprochen und Schmalz geantwortet hatte, verwandelte sich das so bekannte Frage-Antwort-Spiel zwischen Moderator und Autor in ein tatsächliches Publikumsgespräch. Zuschauer trauten sich und fragten, unterbrachen, sagten ihre Meinung zu Schmalz‘ Texten und Aufführungen. Eine sehr kommunikative, egalitäre und freundliche Atmosphäre.

Laut Laages war dieses Provisorium eine Premiere. Wird es Wiederholungen geben? Bitte!