19. Mai 2022 •
Wenn unsere Zukunft schrumpft, wird unsere Vergangenheit größer. Und was bleibt, wenn auch die Vergangenheit schwindet?
Oma Monika ist für ihren Stachelbeerkuchen bekannt. In Milan Gathers Stück „Oma Monika, was war?“ steht sie in der Küche und backt. Für Enkel Balthasar macht sie das schon immer. Erst nach und nach erhält er einen Einblick in die Geschichte seiner Oma, die nicht nur Bäckerin, sondern auch Journalistin und vieles andere ist. Und die immer mehr aus ihrem Leben vergisst.
Mein Opa mochte keine Süßigkeiten. Gar nichts Süßes, um genau zu sein. Als Kind war das für mich eine merkwürdige Angelegenheit. Wenn ich etwas über meinen Opa erzählen sollte, war meine Antwort meistens sowas wie „er ernährt sich gesund“ oder „er isst überhaupt nichts Süßes“. Später dann, mit dem Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit, änderte sich das. Kuchen wurde zu seinem Lieblingsessen und irgendwann zu den wenigen Gerichten, die er überhaupt noch aß.
Wenn man mit dem Zerfall einer Identität konfrontiert wird, erhält die Frage, was uns eigentlich zu uns macht, eine neue Bedeutung. Das Äußere, der Körper ist nur eine Hülle, gesteuert von Milliarden Nervenzellen. Was ihn füllt, darüber gibt es verschiedene Ansichten. Manche nennen es Seele, andere Geist und wieder andere haben eine ganz nüchterne Sichtweise: Ein Geflecht aus Neuronen und Synapsen. Es steuert nicht nur unsere Bewegungen, auch Sprache, Gedächtnis und Emotionen sind ihm unterlegen. Ein empfindliches System. Viel zu empfindlich dafür, dass die gesamte Existenz des Menschen davon abhängt.
Ein Baum zur Geburt
Ich stehe unter einem hellgrünen Blätterdach und versuche mich an die Spaziergänge mit meinem Opa zu erinnern. In diesem Moment fällt mir ein, wie wir einmal zusammen im Wald unterwegs waren. Er erzählte mir, dass er zu meiner Geburt einen Baum gepflanzt habe. Natürlich wollte ich wissen, wo der Baum stand. Wir stapften eine Weile durchs Unterholz, ließen Zweige unter unseren Füßen knacken und das Laub rascheln. Gefunden haben wir den Baum nicht. Später erfuhr ich von meinem Vater, dass der Baum schon längst gefällt worden war.
Frühes, mittleres und spätes Stadium. In drei Schritten verliert sich der Mensch. Zuerst ist nur das Kurzzeitgedächtnis betroffen. Wie eine Made frisst sich die Krankheit dann weiter ins Hirn, bis sie nicht nur das, was kommen wird, verschlingt, sondern auch die Vergangenheit. „Patienten können sich immer weniger an wichtige Ereignisse aus ihrem Leben erinnern“, heißt es auf der Internetseite der Alzheimer Forschung. Als ich von der Diagnose meines Opas erfuhr, bekam ich Angst. Ich fürchtete mich vor dem Tag, an dem er mich nicht mehr wiedererkennen würde. Auch Oma Monika erkennt ihren Enkel vorübergehend nicht wieder. Sie verwechselt ihn mit ihrer Mutter und dann mit ihrem Vater. Für Balthasar ist es eine Chance, mehr über die Vergangenheit seiner Oma zu erfahren.
Mein Opa war sehr tierlieb. Ich kann mich erinnern, dass er zu unserem Familienkater eine enge Bindung hatte. Und auch den Hund hatte er gern. Während die Tiere unbefangen auf ihn zugingen, ihn weiterhin wie den alten Freund, der er war, begrüßten, wurde ich immer gehemmter. Da stand der Mensch, den ich mein Leben lang kannte, der noch aussah wie früher, nur ein bisschen älter und doch ganz verändert war. Im mittleren Stadium „zeigen sich tiefgreifende Veränderungen im Verhalten und in der Persönlichkeit des Patienten“.
Wir haben gerne Karten gespielt, mein Opa und ich. Er hat mir das Stechen beigebracht, was Kreuz, Piek, Karo und Herz bedeuten und dann stolz gelächelt, wenn ich gewonnen habe. Wir haben unser eigenes Spiel gespielt, mit unseren eigenen Regeln. Später dann schaute ich mit ihm Bilder in einem selbstgemachten Fotoalbum an. Unter jedem einzelnen Bild stand eine Beschreibung, wer auf dem Bild zu sehen ist, wo und wann es aufgenommen wurde.
„Aber was ist? Was ist jetzt? Jetzt ist jetzt“, stellt Oma Monika am Ende des Stückes fest. Denn wenn die Zukunft schrumpft und die Vergangenheit schwindet, dann bleibt nur noch die Gegenwart.