Aschenputtel im Klassenkampf


Kritik

„Mom“, brüllen Sis (Meret Engelhardt) und Sista (Judith Florence Engelhardt), die wahlweise in Prinzessinnen- oder Cocktailkleidern auf ihren ärmlichen Hochbetten liegen, während die alternde Mom Thousandbeauty (Anke Stedingk) mit den unendlich langen Haaren an ihrem Beauty-Tischchen residiert. Wonach die Sisters brüllen, variiert in der Uraufführung von Rebekka Kricheldorfs Stück. Mal wollen die Schwestern Reichtum und Schönheit, mal fühlen sie sich voneinander oder ihrem laschen Daddy unverstanden und Mom muss es ausbaden. Aber Mom, eine überschminkte MILF mit Komplexen, fordert etwas zurück für die Erziehungsleistung. Sie möchte, dass eine von ihnen, sich den namensgebenden „goldenen Schwanz“ angelt. Einen reichen Mann. Einen Millionär. Einen Prinzen.

Auf der von Daniel Roskamp gestalteten Bühne ist die ärmliche Behausung der Familie in ein Gittergerüst eingebunden: Ein-Zimmer-Wohnung, eine alte Toilette auf der oberen Etage. Das einzige, was hier strahlt, sind die herausgeputzten Töchter der Familie. Das ist auch kein Wunder, denn ihre Mutter sagt ihnen mehr als einmal, dass ihr Körper ihr Kapital ist. Die einzige, die sich aus Körperkult nichts macht, ist Aschenputtel – eine etwas rundliche Heimwerkerin im Blaumann, widerborstig unaufgeregt gespielt von Rahel Weiß. Und ausgerechnet in sie verliebt sich der Prinz (Aljoscha Langel), ein in Blockbuster-Sequels gealterter Vampir-Darsteller, der nach mehr Echtheit und Erfüllung in seinem Leben sucht. Was nach RomCom-Klischee klingt, wird ein wilder Ritt durch die Untiefen von Träumen, Zwängen, Beziehungen und vor allem: Feminismus.

Aschenputtel im Disney-Trash

Die ganze Inszenierung von Schirin Khodadadian setzt auf Energie und Körperlichkeit: Es wird gestritten, gekämpft, über mehrstöckige Gittergerüste geklettert. Chips werden erotisch verspeist und Prinzen gleiten ironisch durch Nebelschwaden. Manchmal regnet es auch feministische Kampfliteratur. Das komplette Schauspieler*innenensemble ist außergewöhnlich präsent, mal laut, mal leise, aber immer dringlich. Teils geschieht dies in bewusster Sexualisierung: Da wird kokettiert, sich effektvoll gedreht und die Haare zurückgeworfen; vieles erinnert an eine Trash-TV-Version von Disney und kitschige Weihnachts-Märchenfilme. Doch die oberflächliche Inszenierung von Weiblichkeit ist stets nur eine von vielen Schichten und wird schnell ironisch gebrochen.

Die Familiengeschichte der Thousandbeauties beginnt, als eine alleinerziehende Mom und ein alleinerziehender Dad aufeinandertreffen. Mom bringt die Sisters, Dad bringt Aschenputtel: Patchwork. Dad flüchtet im schlabbrigen, gelblichen Papa-Pullover in seine Opernwelt und Mom ist überfordert. Aus der ehemaligen Beauty-Queen der 90er wird die ebenso überschminkte wie heruntergekommene Stiefmutter, die ihr ganzes Leben auf Schönheit setzte und nun ausgeblutet ist. Während die Sisters sich unselbstständig durchs Leben brüllen, verstehen sie doch irgendwie so halb, dass sie Teil einer patriarchischen Struktur sind – Mom setzt alles daran, diese zu ihren Gunsten einzusetzen. So wütet sie hysterisch, kreischend, lallend, übertrieben, aber dennoch irgendwie traurig und bemitleidenswert durchs Stück. Trotz allem: Mom Thousandbeauty hat Familienideale. Es geht bei der Suche nach dem goldenen Schwanz um Zusammenhalt. Wie bei Alexandre Dumas. Hat ihn eine, so sollen alle davon profitieren. Es geht nur darum, dass eine ihn bekommt! Und dass es am Ende Aschenputtel ist, muss man dann eben akzeptieren.

Feminismus-Traktate und Plateauschuh-Träume

Die leicht dümmlichen Töchter wirken oft, als sei ihre emotionale Entwicklung im Gegensatz zur körperlichen auf der Strecke geblieben – ein Klischee, welches schon die Originalmärchen aufmachten um dumme, naive, zickige und böse Frauen zu zeigen, die nicht Die Richtige für den Prinzen sind – ganz zu schweigen von endlosen Inszenierungen und Verfilmungen. Lichte Momente der Schwestern durchbrechen das Stereotyp jedoch immer wieder, etwa wenn sie die überfordernde und letztlich nutzlose Männerfang-Erziehung ihrer Mutter anklagen. Am Ende können Sis und Sista dennoch nicht aus ihrer Haut und ihren hohen Schuhen. Die Macht der Sozialisation siegt, Brecht und Bourdieu grüßen aus den Dialogen. Was bleibt, ist eine Figurenambivalenz, die sich unter der komödiantischen, fast nervigen Oberfläche entfaltet – wie bei allen von Kricheldorfs Charakteren. Selbst die verdatterte Erzähler-Taube (Eva-Maria Keller in einer Einzelrolle im Plural) passt ihre Märchen den Verhältnissen an, zwischen Feminismus-Traktaten, Grimm-Vokabular und Plateauschuh-Träumen.

Stück und Inszenierung gelingt es mit vielen Tempowechseln über die ganzen zwei Stunden zu überraschen. Wichtige Kritik tritt in vielen Verkleidungen auf, oft lustig, mal bissig, mal tragisch. Bemerkenswert ist, wie Autorin und Regisseurin mit Klischees spielen und es dabei jedes Mal schaffen, dem moralischen Zeigefinger zu entgehen. Das Ende lässt die Figuren gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Jede von ihnen deutet anders, wie es nun mit dem Leben der Protagonist*innen weitergehen wird. Ob Aschenputtel und der Prinz glücklich werden oder sich scheiden lassen, die Schwestern Wissenschaftlerinnen werden oder Prostituierte, männliche Sexsucht oder weibliche Karrieren den Weg bestimmen – all das hängt davon ab, aus welchem Leben heraus das Märchen zu Ende erzählt wird.

Foto: Nils Klinger.