Nicht ohne meinen Blaumann
In der Märchenwelt der Brüder Grimm herrscht ausgleichende Gerechtigkeit – und eine sehr klare Vorstellung über Männer- und Frauenrollen: Von den Stiefschwestern gemobbt und von der Stiefmutter gedemütigt, bekommt das fleißige, sittsame Aschenputtel am Ende den reichen Prinzen – und wird also vom ascheverstaubten heimischen Herd direkt ins goldene Schloss weggeheiratet.
Zweihundert Jahre später, in Rebekka Kricheldorfs Aschenputtel-Variante „Der goldene Schwanz“, stellt sich die Lage nicht nur deutlich komplexer, sondern auch um ein Vielfaches lustiger dar. Souverän nimmt die Dramatikerin, die dem Mülheimer „Stücke“-Publikum längst als große Komödienautorin bekannt ist, den kapitalistischen Topos vom Sozialaufstieg durch Heirat auseinander, um mit hintergründiger Diskursfitness heutige Rollenmodelle und Lebensentwürfe generell auf den Prüfstand zu stellen.
Tatsächlich bleibt kein Klischee unzertrümmert – und keiner der blinden Flecken, in dem es sich selbst die aufgeklärtesten Frauen mit smarten kleinen Selbstbetrugsstrategien gemütlich gemacht haben, unbehelligt in dieser aktuellen Märchen-Aneignung, die Schirin Kodadadian am Staatstheater Kassel urinszeniert hat.
Weil Kricheldorfs Aschenputtel weiß, dass das Schloss im Zweifelsfall auch nur ein goldener Spießerkäfig ist, hat sie sich ihrerseits weit vom Prinzentraum entfernt und stattdessen für ein emanzipiertes Selfmade-Woman-Dasein entschieden. Wiederholt entert sie im Blaumann das Szenario – stets auf der Suche nach einer lockeren Schraube oder einer reparaturbedürftigen Elektrizitätsleitung an der familiären Küchenzeile – und unterlegt die selbstbestimmte Handwerkerinnentätigkeit gern noch mit einem belesenen Spontanreferat über soziale Ungleichheit und andere globale Ungerechtigkeiten.
Adressatinnen sind Aschenputtels Stiefschwestern, die hier „die Sistas“ heißen und ihrerseits zwar alles andere als rollenrevolutionär, dafür aber in einem gleichfalls gesellschaftstheoretisch beschlagenen, mit allen Gegenwartsdiskurswässerchen gewaschenen Code über Dates und Lippenstifte streiten. Die Sistas sind – wie sie es selbst wahrscheinlich formulieren würden – schwer influenced von einem täglich mantraartig zu wiederholenden mütterlichen Leitspruch, der da lautet: „Greift nach dem goldenen Schwanz! Gebt euch nicht ab mit einem silbernen oder gar bronzenen oder gar blechernen. Nein! Der goldene ist gerade gut genug für euch!“
Logisch, dass die aufstiegsorientierte Mutter dabei – neben ein paar Kleinigkeiten – wiederholt den zentralen Punkt übersieht, dass sich selbst in der besten Märchen-Adaption nicht alles, was auf den ersten Blick golden glänzt, auf den zweiten auch tatsächlich als Edelmetall erweist.
Aber wer weiß: Vielleicht ist Gold ja ohnehin out – oder zumindest maßlos überschätzt? Das Schöne an Kricheldorfs Stück ist, dass es keine Position denunziert oder didaktisch privilegiert, sondern bestens gelaunt und mit gewohnter Pointensicherheit eine vermeintliche Lebensgewissheit nach der anderen ad absurdum führt.
Christine Wahl