Stücke 2015
Mit den Schutzbefohlenen hat Elfriede Jelinek einen luziden Kommentar zur aktuellen Debatte um Asylsuchende, europäische Grenzschutzpraktiken à la Frontex und moralisches versus paragrafisches Asylrecht geschrieben. Ausgehend von der Besetzung der Wiener Votivkirche durch pakistanische Flüchtlinge im Herbst 2012, verwebt die Literaturnobelpreisträgerin gegenwärtige Flüchtlingsschicksale mit dem antiken Drama Die Schutzflehenden des Aischylos zu einem wuchtigen Klagechor mit den Jelinek-typischen Kippfiguren und Perspektivwechseln. Immer wieder werden die Stimmen der „Schutzbefohlenen“ von zynischer Zuwanderungsbroschüren-Prosa des österreichischen Innenministeriums oder fremdenfeindlichen Abwehrreflexen der privilegierten europäischen Festungsbewohner gebrochen. Mit ihrem zentralen Motiv vom „Stellvertreter eines Stellvertreters eines Stellvertreters“ stellt die Autorin dabei nicht nur die Frage nach unserer persönlichen Verantwortung. Sondern sie problematisiert auch ihre eigene Position: Wer spricht da eigentlich, wenn eine österreichische Schriftstellerin – gleichsam selbst Vertreterin der europäischen „Gated Community“ – aus der Perspektive eines Flüchtlings-Wirs schreibt? Nicolas Stemanns Urinszenierung vom Thalia Theater Hamburg, in der die Schauspieler gemeinsam mit den Lampedusa-Flüchtlingen aus der Hamburger St.-Pauli-Kirche auf der Bühne stehen, denkt diese Fragen so komplex wie konsequent weiter und überträgt die buchstäbliche Unfassbarkeit der sich an den europäischen Außengrenzen ereignenden Tragödien auf deren (Nicht-)Darstellbarkeit im Theater.
Christine Wahl
Mit: Thelma Buabeng, Barbara Nüsse, Ernest Allan Hausmann, Felix Knopp, Isaac Lokolong, Daniel Lommatzsch, Dennis Roberts, Sebastian Rudolph und einem Flüchtlingschor
Regie und Bühne: Nicolas Stemann
Live-Musik: Daniel Regenberg
Kostüme: Katrin Wolfermann
Video: Claudia Lehmann
Musik: Daniel Regenberg, Nicolas Stemann
Dramaturgie: Stefanie Carp
Mit englischen Übertiteln. Übersetzung Gitta Honegger, Anfertigung Yvonne Griesel
Hier geht es zum Bericht über die Publikumsdiskussion vom 24. Mai in der Stadthalle Mülheim.