Wann ist ein Mann ein Mann?
Auf den ersten Blick mag das irritierend sein: ein reiner Männerabend – wo das Theater sich doch so sehr um Diversität und Geschlechtergerechtigkeit bemüht. Ist das noch zeitgemäß? In diesem Fall schon. In My Room ist alles andere als potenzprotzig toxisch. Falk Richter und sein fünfköpfiges Ensemble setzen sich in dem gemeinsam entwickelten Stück als Söhne mit ihren Vätern auseinander. Die Männerbilder, an denen sie sich dabei in biografischen Skizzen abarbeiten, sind so prototypisch wie unterschiedlich. Sie fügen sich zu einem deutschen Gesellschaftsbild, das von den Traumata und Erziehungsmethoden der Kriegs- und Nachkriegszeit bis in die migrantische bzw. postmigrantische Gegenwart reicht. Die oft beschworene Krise der Männlichkeit, hier wird sie höchst persönlich untersucht und umspielt.
Es beginnt mit einem halbstündigen Monolog, den der grandiose Jonas Dassler als Alter Ego des Autors Falk Richter spricht. „Mein Vater …“, hebt die lyrisch konzipierte Rede an, in der er sich der zeitlebens fremd gebliebenen Figur erst einmal mit Fragen nähert. „Was hat er gelebt, was hat er an mich weitergegeben? Waren wir Freunde, waren wir Feinde?“ Ein Vater, der von seinem eigenen Vater geschlagen wurde und später wiederum den Sohn schlug. Ein Vater, der mit 18 an der Front kämpfte. Der mit 59 zu arbeiten aufhörte und dann zu Hause herumhing, alle nervend, seinen Sohn für dessen Homosexualität verachtend.
Persönliche Erinnerungen paaren sich mit grundsätzlichen Fragen an „Männlichkeit“ und das Patriarchat. John Wayne ist ein Vor- und Abziehbild. Aber auch dem Vater selbst wird eine Stimme eingeräumt, er spricht vom Krieg, von der Unruhe nachts, von seinem Hass auf CDU-Altnazis und all die Rechtskonservativen, die jetzt wieder da sind. Ergänzt um eine komische Parodie des „Boss“-Rappers Kollegah und dessen Alphamann-Postulat ist damit das Feld eröffnet für die Väter der anderen. Väter wie der von Taner Şahintürk, der sich als Gastarbeiter von den Deutschen stets klein halten ließ. Oder der von Benny Claessens: Hafenarbeiter, vom Sohn für überflüssig erachtet, bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ein lästiger, alter, weißer Mann.
Es sind schwule Söhne, wütende, liebende, sich in ihrem eigenen Selbstverständnis als Mann be- und hinterfragende Söhne, die In My Room zu einem tragikomischen, ebenso authentischen wie empathischen Beitrag zum Diskurs unserer Zeit machen – von Falk Richter als Autor-Regisseur sprachlich kraftvoll in Form gegossen und szenisch wunderbar komisch und anrührend aufbereitet. Es gibt erheiternd erhellende Geschlechter- und Rollenmusterverwirrungen, kleine Gehässigkeiten und große Gefühle. Im Streit eines homosexuellen Paares scheinen Verlust- und Altersängste auf, und das Ende gehört den greisen, kranken, sterbenden Männern. So viel Wunsch nach Liebe, so viel Ungesagtes. Endlich wird einmal darüber gesprochen.
Christine Dössel