Stücke 2019
Als gesellschaftspolitisch mutmaßlich reaktionsschnellste Dramatikerin hat Elfriede Jelinek auch zur #MeToo-Debatte Kluges und gedanklich Weitreichendes zu sagen. Ihr Textkonvolut Schnee Weiss nimmt die systematischen sexuellen Übergriffe im österreichischen Skisport, die bis in die 1970er Jahre zurückreichen und Ende 2017 von der ehemaligen österreichischen Abfahrtsmeisterin Nicola Werdenigg öffentlich gemacht wurden, zum Ausgangspunkt für eine in jeder Hinsicht globale moralphilosophische Tiefengrabung. Die gewohnt – und buchstäblich – sprachschlüpfrigen Assoziationsketten der Literaturnobelpreisträgerin, die Stefan Bachmann in seiner Urinszenierung am Schauspiel Köln adäquat aufstrippt, führen dabei nicht nur zu hintergründigem Spott über Körperertüchtigung und Selbstoptimierung. Sondern vor allem schließt Jelinek den Skisport – Österreichs „heilige Kuh“ – konsequent mit der entsprechenden Religion kurz. Mit Oskar Panizzas antikatholischer Satire Das Liebeskonzil aus dem Jahr 1894 sowie Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud als Stichwortgebern schafft die berechtigte Dauergastspielerin des Mülheimer „Stücke“-Festivals einen Resonanzraum, in dem gängige Schuld- und Moralvorstellungen ebenso komplex und (wort-)gewitzt hinterfragt werden wie Geschlechter-Klischees und eine (Macht-)Rhetorik, die die Opfer selbst zu den gefühlt Schuldigen verkehrt.
Christine Wahl
Mit: Margot Gödrös, Simon Kirsch, Lola Klamroth, Peter Knaack, Nikolay Sidorenko, Sabine Waibel
Regie: Stefan Bachmann
Bühne und Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes
Komposition und musikalische Einrichtung: Gajek
Choreografie und Körperarbeit: Sabina Perry
Licht: Michael Gööck
Dramaturgie: Beate Heine