René Pollesch zur Eröffnung der "Stücke '07"


"Aufstehen, nach hause gehn, jura studiern!"

Es muss der Betrug sein, der unsere Zeit miteinander so reich macht. Ich hab keine andere Erklärung dafür, dass mir Komplexität dieses Lächeln ins Gesicht zaubert, als der Betrug.

Ach,Eve!
Du bist immer im Vorteil, du erzählst dir nichts.
Mit dir, das war immer wie herauszukriegen, ob nicht andere Geschichten möglich sind.
Ich meine ganz, ganz andere Geschichten als dieser narrative Sumpf von authentischer Liebe und so...
Geschichten des Betrugs, der Lügen und nicht der Wahrheit, nicht die Geschichten, die schon die Welt erbaut haben sondern Geschichten von einem mikroskopisch kleinen Haar im Darmtrakt einer Termite, eines Parasiten, der sich so lange mit seiner Beute unterhält bis der Parasit ein Gast und schliesslich ein adoptierter Verwandter ist. Wir müssen uns Geschichten unserer Biologie und unserer Natur erzählen, die uns nicht nur Biologie performen lassen, oder Heldengeschichten, eine Kohärenz,(uns als Natur) die es nirgendwo als Ort gibt, uns.
Wir sind nicht in uns Zuhause, wir tauchen nur immer auf, an materiell semiotischen Erzeugungsknoten, an denen sich Gebiete, die nicht zusammengehörn etwas erzählen, Konversation betreiben.

Ein Zusammentreffen von sich verändernden Partnern, dass sie dauernd verwandelt, diese löchrigen Einkaufstaschen, die wir sind und mit denen wir durch die Stadt streichen. Wir haben es mit unerwarteten Partnern zu tun.

Die eigenen Leidenschaften am Leben erhalten, darum geht es. Die Art wie einem an etwas liegt. Und das geht mir gerade verloren! Oh Gott! Die Welt ist so unterkomplex ohne deine Betrügereien.

Ob du Zecke irgendwann einmal ein Gast sein kannst bei mir, wo du schon überall Gast bist in den Gedärmen da draussen, mit denen du schon in Konversation getreten bist. Nur unsere gerät immer ins Stocken! Warum nur?

Dieser Hund hat mich betrogen, dieser Köter, diese miese Wildsau! EVE!
Natürlich fallen manchmal Sätze, die meine kleine Welt, meine kleine obsessive Welt zerstören. Weil jetzt all jene mein Leben in der Hand haben, die ihn sehen und von ihm erzählen. Warum kann das sein, dass der das alles mitgenommen hat, ohne Interesse, nur mit dem Interesse an dieser Komödie, die er mir vorgespielt hat. Und warum ist das nicht ein schönes Interesse, das der hat, warum gefällt mir das nicht, diese Komödie, die er mir vorgespielt hat. Und alles nur deshalb, weil sie sich nicht als Schein zu erkennen gibt. Ist das der Grund, das alles ausgelöscht wird, nur diese eine Sache, dass wir immerzu s a g e n müssen, dass wir spielen! Das könnte alles wahr sein, und du könntest mich nur zum Besten halten, warum ist mir das eine alles und das andere nichts. Warum lassen wir unsere Leben vergiften von Vorstellungen von Wahrheit. Er steht vor mir und sagt: Ich liebe dich Und ich sage: Du spielst so schön?? Wie soll das gehn? Wir würden beide schlagartig schlechte Laune kriegen. Wir können das Spiel nicht leben, wir sind nicht so konstruiert, jedenfalls nicht mit den Geschichten, die wir bewohnen müssen.

Es sind Überlebensgeschichten, die wir heute nötig haben, Geschichten ohne Anfang und Ende, Geschichten, die unterbrochen und dauernd fortgesetzt werden. Und ohne uns als Einzelheiten, sondern als löchrige Einkaufstaschen, etwas das jemandem als einziges Instrument übriggeblieben ist, um zu überleben. Und mit denen er seine Begegnungen organisiert.

(Warum werden die Lügen immer gegen uns gewendet,Eve? Die Lebenslügen dürfen doch nicht gegen uns gewendet werden.)
Es darf keine Lebenslüge geben, die gegen uns gewendet werden kann. Niemals. Das ist das Leben, die Lügen, und wenn wir so vor uns stehn, darf das kein Instrument sein, uns zu kompromittieren, dass wir gespielt haben und dass wir verlogen warn. Das kann nicht sein, dass wir dafür entweder im Gefängnis sitzen oder in einem Ibsen, in Plötzensee oder in Rosmersholm, nur weil wir lügen. Die Konversation der Menschen ist nun mal ins Stocken geraten, also müssen wir lügen um weiterzukommen und irgendwann ein Gast sein oder ein adoptierter Verwandter, aber bitte nie mehr ein Liebespaar, diese Geschichte, die an einer Ruine baut, immer und immer wieder. In Liebesgeschichten ist Konversation ins Stocken geraten! Das ist alles was über sie zu sagen ist! Liebesgeschichten sind ins Stocken geratene Konversation.

Die eigenen Leidenschaften am Leben erhalten, darum geht es. Die Art wie einem an etwas liegt. Und das geht mir gerade verloren! Oh Gott! Die Welt ist so unterkomplex ohne deine Betrügereien.

Ich krieg meine Leidenschaften nicht mehr zusammen. Ich kann sie nicht mehr zusammenhalten, das, was meinem Leben einen Zusammenhang gibt. Die ganzen Leidenschaften, die den Zusammenhang meines Lebens aufgelöst haben, die kann ich nicht mehr zusammenhalten. Damit sie es immer und immer wieder tun, jeden möglichen Zusammenhang auflösen! Aber sie sind weg. Was mach ich denn nur?

Vielleicht sollte ich wirklich versuchen herauszukriegen, warum du mit diesem hässlichen alten Affen zusammen bist und nicht mit mir der ich so schön bin und du mit Sven das machst und mit mir nichts, was für ein Tier bist du? Aber das bist du ja nicht.

Wie schaffst du das, diese Affen... vielleicht schaffst du das, sie für dich zu gewinnen. Aber womit denn?

Warum muss in dieser Lügenanstalt alles Wahrheit sein, und kann nicht Betrug bleiben? Und warum müssen die Körper Menschen sein und können nicht soziale Tiere bleiben? Warum kann diese Lügenanstalt rein gar nichts über die fallende Grenze zwischen Mensch und Tier sagen? Und warum muss sie sich mit diesem Automatismus herumschlagen, dass jeder Primat, der die Bühne betritt, ein Mensch ist, und dass sein Leben automatisch einen Wert darstellt.

Wir können eh nicht leben. Wir Tiere wollen was anderes machen. Und nicht wie die Gentechnologie uns nur auf unsere Körper beziehen. Die Tiere wollen sozial sein. Die haben genug von der Biopolitik, dem Menschheitsprojekt. Die Grenzen sind gefallen, die Biologie ist beim Menschen angekommen und das Soziale bei den Tieren, im Darmtrakt einer Termite. Die wollen nicht repariert werden und ewig leben, die Tiere. Ein Organismus im Darmtrakt einer Termite hat einen Plan von einem historischen Projekt. Aber nicht die Gentechnologie, da geht es nur ums nackte Leben.
Und im Katzentheater geht es um...

Komisch ist das mit der Verachtung.
Wie bei einem Tierversuch geht es darum, jemanden zu finden, der einem ähnlich genug ist all diese abscheulichen Experimente durchzuführn und den man doch weit genug von sich weghalten kann, damit man überhaupt in der Lage ist das zu tun. Diese Tiere bis zum Tode zu quälen, weil sie einem ähnlich sind und doch fremd genug, um sie aus der Welt zu schaffen. Irgendwo in dieser Versuchsanordnung wird dieses Tier doch Mensch genug, um ihm all das gefährliche Zeug einzutrichtern, das für das Gelingen des Experiments notwendig ist und es ist immer noch Tier genug um sich von ihm abzuwenden. Ihn zu hassen, den Ähnlichen. Den vagabundierenden Ähnlichen.

Was ist das für eine Liebe zu dem Anderen, die von
Ähnlichkeit und Verachtung gleichzeitig spricht? Und
wie gut, dass bei diesem Tierversuch nicht eines von
beiden hinter unserem Rücken abläuft. Wir brauchen
beides vor uns, die Ähnlichkeit und die Verachtung.
Sonst wäre der Tierversuch ein Verbrechen, aber er
ist eben völlig legal. Auch und gerade wenn die
Ähnlichkeit und die Verachtung am grössten sind.

Deshalb: Aufstehen, nach Hause gehen und Jura
studiern!

Es muss doch etwas geben, das über uns hinaus geht
und das ist nicht das Heroische.

Du gehst über mich hinaus, EVE, und ich bin froh,
dass ich dich getroffen habe, den anderen, das
andere, das ich nur erreichen kann mit Ähnlichkeit
und Verachtung, gleichzeitig.


Das Geld muss hinter unseren Rücken, damit wir lieben
können: unsere Arbeit zum Beispiel. Vor allem in
diesem (künstlerischen) Bereich hier. Aber die
sadistischen Tierversuche sind ein gutes Beispiel,
warum es sich lohnt, nicht nur die Verachtung oder
die Ähnlichkeit zu denken, sondern beides zusammen.

Wir sind alle gleich und gleichzeitig ist keiner wie
der Andere. Im Theater kommt dieses tragische
Verhältnis nicht vor. Da sind alle immer äußerst
spannungsarm gleich und reden immer von den Anderen.

In den Theatern sollen sich nicht nur die Ähnlichen,
sondern auch die Unähnlichen in den Ähnlichen sehn.
Also lesbische oder schwule Liebespaare in Romeo und
Julia. Oder Frauen in Hamlet. Oder dann, wenn die
Ähnlichen die Unähnlichen performen, sollen sich die
Unähnlichen darin sehn dass sie noch unähnlicher
gemacht werden, also in der Differenz.

Aber wenn man nichts mehr zu sagen hat, außer dem
Konsens, dann sollte man sich besser in die Luft
sprengen. Und das sollte dann kein Monolog sein. Am
besten man macht es in einem Cafe, das stark
frequentiert wird.Sich in die Luft sprengen, darf
kein Monolog sein. Ein Dialog, der wieder Sprengkraft
hat! Das müsste man erfinden! In einen Akt der
Konversation eintreten mit seiner Umwelt über diesen
diffusen Begriff von Leben. Die frisst dann
wenigstens keine Leben mehr, diese Dialogscheiße.
Sondern explodiert zwischen der Tatsache, dass wir
alle gleich sind und gleichzeitig hat einer eine
Menge Dynamit dabei. Die Selbstmörder ermorden
wenigstens das Selbst und nicht die Anderen. Das
Selbst wird getötet und nicht das Andere.

Wir müssen uns Geschichten erzählen jenseits des menschlichen Genomprojekts oder der darwinistischen Erbschaft, die die biotechnologischen Konzerne angetreten haben.

Und welche Lebensformen können uns dabei behilflich sein, beim Vermögen uns eine verwendbare Sprache vorzustellen?

Alle vielleicht ausser der mittelständischen, heterosexuellen, weissen, männlichen Erzählerposition, die glaubt für alle reden zu können.

Darf ich dir einen Brief vorlesen,Eve?

Mutter!
„Die Gewalt des Konsens und der forcierten Zusammengehörigkeit, die, wie eine Schönheitschirurgie des Sozialen, die Wurzeln des Übels und jeder Radikalität auszureißen trachtet; die jede Form der Negativität und Singularität einschließlich der letzten Form der Singularität, die unser Tod ist, löscht; die Gewalt einer Gesellschaft, die uns das Negative und den Konflikt und den Tod untersagt...“ oder, ebenfalls Baudrillard: „Das Evangelium der Sentimentalität“, das Daueroperieren mit dem Begriff der Liebe, dem nicht nur bedeutungsschwersten, sondern auch „schwammigsten Wort unserer Sprache“. Baudrillard, ernstgenommen auf einer Bühne, würde die Lesbarkeit der Veranstaltung, was Liebe und Leben betrifft, kolossal einschränken und zu erheblichen Missverständnissen führn, vor allem bei Beibehaltung einer Darstellungspraxis die auf Psychologisierung und Ästhetisierung setzt und dadurch erst ihre ganze neutralisierende Kraft gewinnt. Theateraufführungen, in denen gesichert von der Liebe, wie von einer „allgemeinen Verteilungs- und Integrationsform, vor der alle gleich sind“ gesprochen wird, neutralisieren vielleicht folgendes: die Liebe ist nur das Abgeschmackteste was der Kapitalismus hergeben konnte. Das Geld wäre so viel schöner als Bereich, der allen offen steht, wenn da nicht dieser Kapitalismus wäre, der immer nur Liebe will.
Auch sehr beliebt als diffuse „allgemeine Verteilungs- und Integrationsform, vor der alle gleich sind“ um die Wendung von Baudrillard nochmal aufzunehmen ist: das Leben. Baudrillard, der von einem Phantasma der Ökonomie ausgeht, welches in der Verdrängung und letztlich in der Abschaffung des Todes besteht, sieht in seiner Reflektion über den 11. September, bei der bei ihm im Zentrum nicht der Mord an Unschuldigen, sondern der Selbstmord der Attentäter steht, „dass unsere westliche Zivilisation das Opfer (des Lebens) ausschliesst und für die Herausforderung nicht fähig ist, weil das Opfer des eigenen Lebens, der Tod, tabuisiert ist und für uns keinen Wert hat“. Die Verdrängung des Todes aus der Gesellschaft "zum Vorteile der Reproduktion des Lebens als Wert“.
Was meinst du, soll ich ihn noch mal schreiben?

Und das Theater kann über das Leben leider auch nichts sagen ausser einem grossen Ja.

Wir sind alle gleich und gleichzeitig ist keiner so wie der andere. Aber es stimmt eben nur in seiner Gleichzeitigkeit. Wir sind nämlich eines nicht: vor allem alle gleich. Es sind nur die Unähnlichen darauf trainiert, sich in den Ähnlichen zu sehen. Zu glauben, unser aller Geschichte wird von einer männlichen heterosexuellen Position aus erzählt. Also zu glauben, Hamlet ist universell.

Eine radikale Absage an das Leben, von Sarah Kane in 4.48 Psychose zum Beispiel, wird auf einer Bühne lediglich zu einem kleinen Unfall, vor dem man kopfschüttelnd steht, und glaubt, man müsste jemandem nur mal kurz auf die Schulter klopfen, damit sich das wieder einrenkt. Eine Schauspielerin in Buenos Aires, die ich in einer Aufführung dieses Textes sah, zieht auf der Bühne jede persönliche Tragödie heran, die sich tief in sie eingegraben hat, um den Text mit Fleisch und Blut zu versorgen, und eben mit Leben, das sie in keiner Sekunde in Frage stellt. Sie hat eben nicht Sarah Kanes Problem. Sie ist eine wunderbare Schauspielerin, aber sie hat einen positiven Begriff vom Leben. Sie kann den Text mit Tränen versorgen, mit ihren persönlichsten Tragödien, aber sie kann doch eines nicht, Sarah Kanes radikale Absage ans Leben teilen. Dann müsste sie sich nämlich umbringen. Das soll sie natürlich nicht, aber sie soll auch nicht mit einem Leben davonkommen, das wieder nur „alle teilen“. Das ganze wird angeschaut von Leuten, die einen gesicherten Begriff vom „Leben“ natürlich höher einschätzen als Sarah Kane, vor allem eben im Theater, und diesen Begriff teilt die Schauspielerin lieber mit dem Publikum als mit der Autorin. Man muss Sarah Kanes Absage an das Leben nicht teilen, aber man muss die Absage nicht mit Psychologie neutralisieren.
Im westlichen Theater klammern sich alle an das Leben und einen positiven Begriff davon, ausser Sarah Kane deren Texte aber trotzdem, ob sie will oder nicht, mit dieser für „jeden verfügbaren Heilsform“ versorgt und entsorgt werden. Die Terroristin Sarah Kane wird im Theater mit einem positiven Begriff vom Leben gefüttert, da kann sie sich noch so oft umbringen.
Während 2 Jahre später, die Medien versuchen, den Selbstmord der Attentäter des 11. September, laut Boris Groys, ebenfalls mit Psychologie zu neutralisieren. Weil die Wahrheit, die wir als Wahrheit begrüssen „vor allem schmutzig, schlimm und nach dem Geständnis einer sexuellen Perversion“ aussehen muss, damit wir sie akzeptieren können.

Warum reproduziert das Theater auch nur das Leben als Wert! Und kann nichts anderes. Nein, die Leben sind nichts wert oder dürfen es nicht sein. Aber das kann da oben nicht erzählt werden. Die Tiere, die die Nazis (ganz legal) in ihren Labors erzeugt haben, werden so auch nur wieder durch eine bürgerliche Maschine entsorgt.

Eve! Ich kann an ein ausgebreitetes Feld von Wissen vor uns Gefühle koppeln, an dieses hochmobile Feld strategischer Differenzen, dass ich bin und das du bist. Daran kann ich Gefühle koppeln und an ständig verschobene Grenzen. Und nicht an diesen authetischen Mist von romatischer Liebe.

Alles was wir so nebeneinander erleben, Dinge die normalerweise auseinander werden, gehen verbindungen ein und an diese Verbindungen sind Gefühle gekoppelt. Die tauchen da auf. Und die haben nichts mit einer wahren Liebe zu tun, sondern mit einem ausgebreiteten Feld von Wissen vor uns und ständig verschobenen Grenzen, die immer neue Erzeugungsknoten bilden eines großen Gefühls, das aber mit allem anderen zu tun hat als dem authentischen Müll und festgeschriebenen Wissenschaften wie Psychologie.

Ich glaube, ich kann schon riechen, dass du was ganz anders bist. Und vielleicht sind wir schon Tiere, die versuchen soziale Beziehungen zu führen und nicht dieser ewige ewige Mensch, dieser Dreck.

Wir Tiere wollen sozial miteinander umgehen und das müssen wir lernen, die Tierfratzen, was die ausdrücken können. Das müssen wir lernen. Und das gibt’s nicht einfach so.