Quote is key – oder?


Diskurs

Zeitgleich zu den „Stücken“ findet jedes Jahr im Mai das Berliner Theatertreffen statt. Die Festivals werden zwar unabhängig voneinander ausgerichtet, aber in Jahrgängen, in denen einzelne Produktionen zu beiden Festivals eingeladen werden, ist der Blick von Mülheim nach Berlin vor allem aus dispositorischen Gründen von großer Bedeutung. Schließlich ist es im Interesse aller, gegebenenfalls beide Gastspiele gewährleisten zu können. Zuletzt war das 2022 mit der Produktion „All right. Good night.“ von Rimini Protokoll der Fall. 

Mit welchen Gedanken und Meinungen Festivalleiterin Stephanie Steinberg und ihr Team allerdings die Pressekonferenz des Berliner Theatertreffens 2019 verfolgt haben, als ihre Berliner Kollegin Yvonne Büdenhölzer die Einführung der 50%-Frauenquote bekanntgab, ist nicht bekannt. Die Entscheidung löste bundesweit eine hitzige Debatte aus und rief Unterstützer*innen wie Kritiker*innen auf den Plan. Welchem Lager man sich hier auch immer verbunden fühlen mag – die Tatsache, dass in den 56 Ausgaben des Theatertreffens 27 weibliche 193 männlichen regieführenden Personen gegenüberstehen, ist zumindest diskussionswürdig. Konsequenzen für die Auswahl der eingeladenen Stücke zu den Mülheimer Theatertagen wurden indes nicht gezogen – die Jury agiert bis heute weiter quotenfrei. Allerdings kann man bei der Betrachtung der Preisträger*innen des Mülheimer Dramatikpreises (seit 1976) und des KinderStückePreises (seit 2010) durchaus ins Grübeln kommen: Den Dramatikpreis gewannen elf Frauen, 35 Männer und ein gemischtgeschlechtliches Autor*innenduo, der KinderStückePreis ging an drei Frauen und zehn Männer, den diesjährigen Gewinner Roland Schimmelpfennig bereits miteingerechnet. Immerhin waren in den letzten drei Jahren mehr Autorinnen als Autoren nominiert. Um beurteilen zu können, ob eine Frauenquote das passende Instrument für Mühlheim ist, sollte zunächst geklärt werden, was ihre Einführung eigentlich zu bewegen im Stande ist.

Hier lohnt sich abermals den Blick von Mülheim nach Berlin zu wenden und sich genauer anzuschauen, wie sich das Berliner Theatertreffen und die Arbeit der Jury in den vergangenen vier Jahren seit Einführung der Frauenquote verändert hat. Die Theaterkritikerinnen Sabine Leucht, Petra Paterno und Katrin Ullmann, die alle schon in der Jury für das Berliner Theatertreffen saßen, haben sich in ihrem Buch „Status Quote. Theater im Umbruch: Regisseurinnen im Gespräch“ mit eben jenen Entwicklungen beschäftigt und legen damit einen aktuellen Beitrag zur Debatte über die Quotenregelungen in der Kunst- und Kulturbranche vor. Erschienen am 5. Mai im Henschel Verlag als Begleitband zum Start des diesjährigen Theatertreffens, kommen in kurzen Porträts, Interviews und Essays all jene Regisseurinnen zu Wort, die seit Beginn der Quoteneinführung zu dem Theaterfestival eingeladen wurden – darunter mit Helgard Haug und Yael Ronen auch zwei Regisseurinnen und Autorinnen mit Mülheim-Vergangenheit. 

Haug vom Theaterkollektiv Rimini Protokoll wurde 2007 mit ihrem Kollegen Daniel Wetzel für die gemeinsame Arbeit „Karl Marx: Das Kapital, Erster Band“ mit dem Mülheimer Dramatikpreis sowie dem Publikumspreis ausgezeichnet und 2014 („Qualitätskontrolle“ – ebenfalls mit Daniel Wetzel) sowie 2022 („All right. Good night.“) zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. Ronen erhielt 2015 den Publikumspreis für ihre Arbeit „Common Ground“ und war 2016 mit „The Situation“ nominiert. Darüber hinaus waren die Regisseurinnen Claudia Bauer, Karin Beier, Felicitas Brucker, Barbara Frey, Anne Lenk und Rieke Süßkow mit ihren Inszenierungen der nominierten Stücke bereits in Mülheim zu Gast. 

Vorangestellt wird den eindrucksvollen Berichten der Theaterfrauen verschiedenster Generationen unter anderem ein persönliches Resümee von Yvonne Büdenhölzer, die die Einführung der Quote als erfolgreichen Impuls zum Nachdenken über den Strukturwandel im Theater wertet und sogar zu neuen, anderen Quoten oder Impulsen anregt. Schließlich bedürfe es vor allem einer intersektionalen Betrachtungsweise, um das vorherrschende patriarchale, heteronormative Machtgefüge im Theater ganzheitlich zu erfassen und es auszuhebeln. Außerdem blickt Theaterkritikerin Eva Behrendt auf die Juryarbeit und jene Regisseurinnen, die bereits vor Einführung der Frauenquote nach Berlin eingeladen wurden. Behrendt war indes nicht nur Jurorin für das Berliner Theatertreffen, sondern auch Mitglied von Auswahlgremium und Preisjury der Mülheimer Theatertage. Ihre Retrospektive führt hin zu einem Gespräch zwischen den Theatermacherinnen Karin Henkel und Lisa Lucassen – von der Performancegruppe She She Pop. Anhand ihrer Biografien werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Arbeit an Stadt- und Staatstheatern und in der freien Szene sichtbar. Mit diesen und vielen weiteren Beiträgen zeichnet sich der Sammelband durch eine starke Vielfalt weiblicher Stimmen aus und bietet einen differenzierten Blick auf die Arbeit von Theatermacherinnen an deutschen Theaterbühnen. Weit über die Einführung der Frauenquote für das Festival hinaus geben die Künstlerinnen an, dass ihr Arbeitsalltag (immer noch) von alltäglichem Sexismus und dem anhaltenden Gender-Pay-Gap geprägt ist.

An Mülheim, wo am Samstag der Dramatikpreis 2023 verliehen wird, zieht diese Debatte wohl auch in diesem Jahr wieder fast unbemerkt vorüber. Einzig die Debatte der Preisjury hat das Potential und die Möglichkeiten auch hier einen Diskussionsraum zu eröffnen. Vor zwei Jahren nutzte zum Beispiel Regisseur Jakob Weiss die Gelegenheit und thematisierte den hohen Altersschnitt der Preisjuror*innen. Dieser könne durchaus einen unbewussten Einfluss bei der Bewertung der Stücke von jüngeren (Nachwuchs-)Dramatiker*innen haben. Bleibt abzuwarten, welche Aspekte die fünfköpfige Jury rund um ihre Sprecherin Christine Wahl in ihrer Entscheidungsfindung herausstellen wird. Zumindest ist in diesem Jahr bei fünf nominierten Autorinnen und zwei nominierten Autoren die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch im dritten Jahr in Folge eine Frau mit dem Mülheimer Dramatikpreis ausgezeichnet wird. Auch das wäre – ganz ohne Frauenquote – ein starkes Signal und Motivation für alle Dramatikerinnen im deutschsprachigen Raum.