Vom Verschwinden und Vergessen


Kritik

Die Angst vor dem Vergessenwerden. Viele von uns mag sie umhertreiben, wenn wir an unseren Tod denken. Die Sorge, dass nicht nur unser Körper verschwindet. Dass man sich nicht an uns erinnert. Dass nichts bleibt. Wir haben diesen Satz tausendmal gehört: „Vergiss mich nicht“. Am Ende einer Urlaubsreise, aus dem heruntergeschobenen Fenster rufend, den Fahrtwind des anfahrenden Zuges im Gesicht. Ein letzter Blick zurück. Dann liegt das Weiterleben in Erinnerungen und Erzählungen nicht mehr in unserer eigenen Hand. Wir sind abhängig. Von jemand anderes. „Denk ab und zu an mich“. Wie sieht es allerdings aus, wenn es andersherum ist? Wenn wir selbst Angst haben zu vergessen. Uns nicht zu erinnern. Unser Gegenüber nicht mehr zu erkennen. Nicht, weil inzwischen so viel Zeit vergangen ist. Sondern weil unser Körper das nicht mehr zulässt. Erst langsam, ab und zu, schleichend. Dann häufiger, nicht mehr nur Kleinigkeiten, sondern vielleicht schon Gesichter, die Namen unserer Liebsten. Wie muss sich das anfühlen?

Die Autorin und Regisseurin Helgard Haug, die Teil des Kollektivs Rimini Protokoll ist, hat diese Situation so erlebt. Nicht als die, die vergisst, sondern die, die vergessen wird. Es ist das Jahr 2014, als Haugs Vater die ersten Anzeichen einer Demenz zeigt, die kurz darauf bei ihm diagnostiziert werden sollte. Etwa zur selben Zeit verschwindet eine Passagiermaschine auf dem Weg von Kuala Lumpur, der Hauptstadt von Malaysia, nach Peking kurz nach ihrem Start spurlos vom Radar. 239 Menschen, die von dem einen auf den anderen Moment spurlos verschwanden. Bis heute wurde keine offizielle Ursache für das Verschwinden des Flugzeuges festgestellt. Lediglich ein angespültes Trümmerteil wurde über 500 Tage nach dem rätselhaften Ereignis gefunden. In „All right. Good night.“ führt Haug diese beiden bewegenden Geschehnissen, die faktisch erstmal nichts miteinander zu tun haben, zu einem Konzert-Theater-Abend zusammen und erzählt vom langsamen Vergessen und schnellen Verschwinden auf höchst berührende Art und Weise.

Auf der Bühne stehen fünf Musiker*innen des Zafraan Ensembles, die mit Musik der Komponistin Barbara Morgenstern samt Schlagwerk, Streich- und Blasinstrumenten durch den Abend führen, und zwei assistierende Darsteller*innen. Der Text wird fast vollständig auf einen Gazevorhang projiziert, gesprochen wird nur selten. Ergänzt wird das ganze durch vorproduzierte Tonaufnahmen und Musik vom Band. Der Abend teilt sich in acht Kapitel, die von einem Prolog und einem kurzen Epilog eingerahmt werden. Jedes Kapitel beschreibt dabei ein Zeitjahr nach der beginnenden Demenz des Vaters und dem Verschwinden des Flugzeugs. Die Übergänge und Umbauten sind offen gestaltet und durch eine herunterfahrbare, grelle Seenotleuchte und elektronische Soundgeräusche samt bis zur Unverständlichkeit verzerrter Stimmen markiert.

Die Inszenierung schafft trotz einer Spiellänge von 150 Minuten eine soghafte Wirkung. Die Szenenwechsel verschaffen Luft zum Atmen und die Möglichkeit zum Verarbeiten all der Informationen über diese schmerzhaften Verluste. Kongenial verwebt Haug in ihrem Text die beiden Erzählstränge auf eine poetische und berührende Weise. Beide wollen und müssen erst einmal im Körper nachhallen. Und die auf den Text wahnsinnig toll abgestimmte und komponierte Musik füllt die Lücke aus, die nach und nach immer größer wird, wenn das Sich-verlieren zur Zerreißprobe wird.

Auch nach acht Jahren ist das Rätsel um die verschwundene Maschine nicht gelöst und der Vater nach einem langen, schleichenden Krankheitsprozess schließlich verstorben. Die Inszenierung endet hier nicht mit dem klassischen Theater-Black. Ein wenig Restlicht bleibt. Denn die Worte, Momente und Geschehnisse werden zwar mit der Zeit verblassen, aber ganz verschwinden werden sie nicht. Sie werden bleiben, als blasse, schemenhafte Erinnerung in unseren Köpfen und Herzen.