+++ Die 50. Mülheimer Theatertage finden vom 10. – 31. Mai 2025 statt. +++

Einfach rein und eintauchen


Diskurs

Wie andere ihre Stücke lesen, weiß ich nicht. Mit Wein, dunkler Schokolade und klassischer Musik im Hintergrund, vielleicht. Oder mit einer Katze auf dem Schoß in ihrem Ohrensessel. Vielleicht auch im Wald, an einem kleinen Fleckchen Erde am Fluss. Im Bus, im Zug, in der Schlange vor dem Bäcker, oder ganz klassisch im Büro.

Ich mache das am liebsten auf dem Bauch liegend, vor mir das Skript aufgeklappt, Bleistift, Lineal und Radiergummi bereit für Notizen. Daneben baue ich noch meinen Laptop auf, denn: Wenn ich etwas nicht verstehe, ist Google meine beste Freundin.

Und dann einfach rein und bestenfalls eintauchen.

 

Elfriede Jelinek – Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!

Eine. Woche.

„Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!" ist das erste aller Stücke, das ich in Angriff nehme, und ich brauche eine geschlagene Woche, um diesen Text zu lesen. 83 Seiten, voll mit dicken Absätzen Fließtext, keine Regieanweisungen, keine Rollenzuteilungen – darauf hatte ich mich schon eingestellt. Dass das viel Konzentration erfordern wird, darauf auch. Aber eine Woche? Puh.

Das liegt nicht etwa daran, dass es langweilig wäre. So kunstvoll die Wortverdrehungen auf der Bühne später hoffentlich wirken werden, so anstrengend sind sie für das Gehirn zunächst auf dem Papier: Manche Sätze muss ich mehrmals lesen, um den Wortschleifen ihre Bedeutung abzuringen und die Buchstabenakrobatik nachzuvollziehen. An einem bestimmten Punkt gehen mir einfach die Augen über, und dann muss ich für den Tag Schluss machen. Es ist eine kleine Schatzsuche, in dem Gewirr aus Satzzeichen die offensichtlichen und weniger offensichtlichen Inhalte herauszulesen: die konstante Flut an Nachrichten, allerhand Verschwörungstheorien, Anti-asiatischer Rassismus, Klimawandel, Kapitalismus, Anspielungen auf Black Lives Matter, Tinder und die DIY-Welle während der Lockdowns. Und natürlich griechische Mythologie! Wer „der alte Ungar“ ist, muss ich mir ergoogeln (Spoiler: es ist George Soros) und am Symbolismus der türkisen (nicht türkischen!) Pullis bleibe ich hängen. Ich suche nach Fotos von Leugner*innen-Demos, aber es sieht nicht so aus, als wäre das eine Farbe, die sie sich zu eigen gemacht hätten.

Ich klappe das Skript erstmal mit einem Seufzer zu, reibe mir die Augen und frage mich, ob Frau Jelinek wohl besonders gut im Wordle lösen ist?

Lieblingszitat: …meine Seele sagt mir nichts. In diesem Lärm würde ich sie auch nicht hören.

 

Nora Abdel-Maksoud – „Jeeps“

Bei diesem Stück merke ich mal wieder, warum ich Stücke zu lesen anstatt sie zu sehen manchmal schwierig finde: Meine Augen haben die Angewohnheit, die fett gedruckten Namen der Sprechenden zu überspringen oder Regieanweisungen zu übersehen. Und dann bleibt nur noch Chaos übrig, weil ich nicht zuordnen kann, was gerade passiert. Das liegt nicht am Stück selbst! Das liegt an mir und meinen Lesegewohnheiten.

Trotzdem kommt auch beim Lesen direkt viel spitzzüngiger, übermütiger Witz rüber, und ich freue mich besonders, weil mit Peaky Blinders eine meiner Lieblingsserien zitiert wird. Ich muss ein bisschen an die Gangsterfilme der 70er und 80er denken. Oder an einen Heist Movie, in dem ein Team irgendwo einbricht, um etwas zu stehlen, und in dem hinter dem Rücken der anderen Intrigen in Intrigen gesponnen werden, um dann am Ende enthüllt zu werden. Der Schlagabtausch zwischen den Charakteren springt energetisch von der Seite und ich freue mich schon, ihn auf der Bühne zu sehen.

Lieblingszitat: Wie heißen die Enten mit dem spitzen Mund? Und: Fehlender Optimismus gilt als Vermittlungshindernis.

 

Sivan Ben Yishai – Wounds Are Forever (Selbstportrait als Nationaldichterin)

Ich weiß viel zu wenig, wird mir beim Lesen bewusst. Über die Konflikte zwischen Israel und Palästina, meine ich vor allem. Klar haben wir das in der Schule durchgenommen, aber die Geschichtsbücher sind leider auch sehr einseitig und wenig differenziert, wenig detailliert. 

Mehrmals wünsche ich mir, ich könnte hebräische Schriftzeichen lesen, und bin deshalb sehr dankbar für die zahlreichen Fußnoten, die neben Übersetzungen auch geschichtliche Hintergründe liefern. Trotzdem mache ich mir ausführliche Notizen. Es dauert einen Moment, bis ich entwirrt habe, welche Stimme in diesem Text wem gehört, denn es ist nicht immer leicht, die verschiedenen Formatierungen zuzuordnen (u.a. mittig, fett und kursiv, mittig mit Anführungszeichen, mittig ohne Anführungszeichen, linksgebunden, rechtsgebunden, mit Kasten, mit Sternchen, mit Schrägstrich usw.).

Der Ritt ist in jedem Fall wild. Da passiert so viel, dass mir am Ende der Kopf raucht – so viel Geschichte auf 80 Seiten, dass es kaum möglich scheint, aber trotzdem ist sie da, immer, immer da.

Lieblingszitat: Aber was ist eine Geschichte, meine sehr verehrten Juden? / Eine weitere gottverdammte Form von Tourismus / Was ist eine Geschichtenerzählerin überhaupt / Ein weiterer gottverdammter Touristenbus / Und unser Bus nähert sich seiner letzten Station/