+++ Festivalmagazin auf nachtkritik.de +++ Szenen für Morgen: Live-Blog +++

Die Eierstocklotterie


Kritik

Die einen haben Glück. Sie sind reich geboren oder wenn sie es noch nicht sind, dann werden sie es bald sein, dann werden sie bald ein Vermögen erben. Andere haben weniger Glück. Sie müssen sich von Gut & Günstig Aufbackbrötchen ernähren und rechtfertigen, wenn sie mal ein Teigteilchen zum Frühstück essen. Immerhin bleibt ihnen nur ein Betrag von 4,86 € pro Tag für den Kauf von Nahrung. Diese Menschen sind die Verlierer der Eierstocklotterie, dem zufällig durch Geburt verteilten Recht auf Wohlstand. Doch was wäre, wenn man diese Lotterie durch eine andere ersetzt? Was wäre, wenn nicht die Nachkommen automatisch erben würden, sondern das Erbe in der Gesellschaft verlost werden würde? Genau diesem Gedankenspiel nimmt sich Nora Abdel-Maksoud in ihrer Komödie „Jeeps“ an, die sie mit den Münchner Kammerspielen auf die Bühne der Stadthalle Mülheim gebracht hat. Ihre selbstinszenierten Stücke wurden bereits mehrfach zu unterschiedlichen Festivals eingeladen, darunter Radikal Jung und das Schweizer Theatertreffen. In diesem Jahr ist sie mit „Jeeps“ für den Mülheimer Dramatikpreis nominiert.

Gespielt wird vor einer Wand in typischem 70er-Jahre-Grün, in die Bühnenbildnerin Katharina Faltner zwei unscheinbaren Drehtüren eingebaut hat. Zuerst klären die Schauspieler*innen, wer wen verkörpern soll: Es sind die Rollen der Verwaltungsfacharbeiter Armin und Gabor, der Hartz-IV-Empfängerin und Trivialliteraturautorin Maude sowie des Hartz-IV-Schamanen Volkmar zu vergeben. Ort des Geschehens ist ein Jobcenter. Während sich der Schamane in die Ecke an ein Schlagzeug setzt, erklären Armin und Gabor den Stand der Dinge: Seit der Erbschaftsreform gesellen sich zu den Arbeitslosen auch die neuen Erbschaftslosen. „Die Angstwürste“, wie Armin diejenigen nennt, die um ihre Grundsicherung bangen müssen, sitzen nun neben Konstantinen und Silken in der Wartehalle A. Namen, die im Laufe des Stückes zu Synonymen für Lululemon tragende, Foodtruck- und Boulderliebende, Wohlstand verwöhnte Mittelständler werden. 

Maude hat noch ein Hühnchen mit Gabor zu rupfen, der ihr den gesammelten Flaschenpfand von der Grundsicherung abgezogen hat. Dieser ist jedoch gesichtsblind, eine Eigenschaft, die ihn dazu befähigt, streng nach Regeln zu handeln und jegliche Art von Emotionalität außen vor zu lassen. Maude will eine Erhöhung ihres Hartz-IV-Satzes erreichen, als plötzlich eine der Silken durch die Drehtür auf die Bühne platzt. Mit einer Minipistole bedroht sie die beiden Beamten und verlangt ein Los. Für Maude geht es um acht Euro, für Silke um ein ganzes Vermögen und für Gabor um seinen heißgeliebten Jeep, pardon, Geländewagen.

Eskalation im Jobcenter

Die Situation im Jobcenter eskaliert, Gabors Geländewagen fliegt in die Luft. Nun ist für ihn endgültig Schluss: Nachdem er auch noch Kleine-Penis-Witze über sich ergehen lassen musste, liegen seine Nerven blank und er heftet die Erbschaftslose an die Kinder, die zwecks Platzeinsparung statt ihrer Eltern in Halle C warten. Es folgt eine Kinderjagd, die die Zuschauer*innen durch die schockierten Augen von Maude, Silke, Gabor und Armin verfolgen.

Durch den teilweise rasanten Wechsel zwischen der Haupterzählung und einer zweiten Interviewebene erhält das Stück eine starke Dynamik, die dank des hervorragenden Ensembles ordentlich an Fahrt und Witz gewinnt. Schnell springen die Schauspieler*innen von einer Ebene zur anderen, spielen sich Pointen zu und vermischen ihre Dialoge, während ihr Spiel die scharfzüngige Ironie des Stückes herausstellt. Unterstützt wird diese Dynamik von den beschwörenden Trommelklängen des Hartz-IV-Schamanen. Zwischen Ironie und Slapstick, wenn zum Beispiel Silke stolz von Bapas (Bayrische Tapas) berichtet oder die Drehtür Armin den Ausgang verwehrt, mischt sich immer wieder die bittere Realität: Während Silke noch als erwachsene Frau von ihrem zweiwöchigen Schüleraustausch schwärmt und mit ihren Fremdsprachenkenntnissen angibt, musste Gabor seine Sommer als Jugendlicher im örtlichen Freibad verbringen. Für Silke sind ihre früheren Nebenjobs ein Aushängeschild, ein Beweis dafür, wie hart sie gearbeitet hat, bis sie mit ihrem Start Up „Laptops in Lederhosen“ erfolgreich wurde. Für Menschen wie Gabor waren und sind diese Nebenjobs lebensnotwendig.

In „Jeeps“ prallen damit zwei Welten, genauer gesagt zwei Klassen aufeinander, wodurch die immer noch bestehende gesellschaftliche Ungleichheit gnadenlos aufgedeckt wird. Das Stück selbst bietet dabei keineswegs einen Lösungsansatz. Die Zufälligkeit der Eierstocklotterie wird vielmehr durch eine andere Zufälligkeit ersetzt. Wie fair ist das? All die wartenden Auto- und Keksfabrikerb*innen mit ihren Anwälten und auch Silke selbst finden dieses Vorgehen auf jeden Fall alles andere als gerecht. Die einzige Frage, die bei dieser Thematik weiterhilft, ist die, wann und ob wir dazu bereit sind, etwas von unserem Vermögen abzugeben. Erst wenn diese Frage beantwortet ist, wird sich zeigen, ob die gesellschaftliche Ungleichheit überwindbar ist oder nicht.