Alles am Anschlag


Kritik

Dass die Mülheimer Stadthalle voll besetzt ist, ist keine Überraschung. Schließlich wird Jelinek gespielt, mit dem „Stück zur Pandemie“ schlechthin. Dem Publikum ist die freudige Spannung deutlich anzumerken. Gleichzeitig sind die Erwartungen an diesen Abend hoch – und sie werden nicht enttäuscht.

Alles beginnt in Dunkelheit, aus der sich ein Klangteppich sich überlagernder Stimmen und bruchstückhafter Techno-Musik erhebt, und der unheilvoll das Chaos aus Nachrichten, Verschwörungstheorien und sozialen Medien spiegelt. Wer sagt die Wahrheit, wem noch glauben? Aber wo sonst die echte Wahrheit finden, wenn nicht hier, umzingelt von diesem Dolby-Surround-Meinungs-Remix?

Dann geht auf der Bühne ein Licht an, und ein einsamer Trompeter in Unterhose wankt herein, verzweifelt bemüht, seinem Instrument Töne zu entlocken. In der urig angelegten Après-Ski-Hüttenkulisse (Bühne: Duri Bischoff) bleibt er nicht lange allein. Bald stoßen Ski-Urlauber*innen und drei Blechbläser hinzu, die das Geschehen den ganzen Abend lang zusätzlich musikalisch-atmosphärisch untermalen. Und dann geht es erst richtig los.

Zwischen Odyssee und phallus-lastiger Muskelshow

Die Inszenierung der Hamburger Intendantin Karin Beier konzentriert sich auf drei große Bilder: Erstens Bad Ischgl, der Superspreader-Ort mit seinen dekadenten Feiernden. Dort sitzen die Spieler*innen dick eingepackt in Winterjacken (Kostüm: Wicke Naujoks) an der Bar fest und schwurbeln, was das Zeug hält. Was soll dieses Virus sein, das niemand sehen, niemand fassen kann? Es muss reine Erfindung sein, eine Biowaffe, eine kapitalistische Profitstrategie, eine jüdische Verschwörung. Zweitens bricht sich an den unterschiedlichsten Punkten immer wieder die Odyssee ihre Bahn. Der Besuch von Odysseus und seiner Mannschaft bei der Zauberin Kirke schlägt Wellen, mal nur unter der Oberfläche als Referenz im Text, dann schon früh sichtbar mit der Verwandlung der Männer in Schweine. Die Ebenen zwischen heutigem und antikem Stoff verschwimmen – Odysseus kann nicht von der Insel weg, und wir können (oder konnten) nicht aus unseren Häusern, weg von der Pandemie, von unseren Smartphones, unseren fatal fehlinformierten Überzeugungen. Drittens: ein Schlachthaus, in Anlehnung an die Fleischfabriken, in denen sich das Virus ebenfalls rapide verbreitete, und in dem die Inszenierung lange verbleibt. Die Holzwände der Hütte ziehen sich wie von Zauberhand zurück und legen die dahinterliegenden Fliesen frei.

Auf der Bühne macht sich nach und nach immer mehr Chaos breit. Kein Szenenbild steht lange, die Aufbauten schlagen Haken wie Jelineks Text, während über mehrere Bildschirme und Projektionsflächen die verschiedensten Bilder, Videos, Animationen flimmern. Sexpuppen, Bierkästen und Amazon-Päckchen häufen sich genauso wie halbe Schweinskadaver und Spaghetti. Wie da die Wahrheit (wieder)finden? Haben wir sie verlegt? Keine Sorge! An Angeboten mangelt es nicht. Die Darsteller*innen schöpfen aus dem Vollen und leisten Großartiges, zeigen virtuose körperliche und sprachliche Bandbreite, von soghaften Monologen über sprunghafte Dialoge zu chorischem Sprechgesang. Sie haben keine Angst davor, sich selbst und den Text zu entlarven. Mehrmals geht an dem Abend sichtlich etwas schief, etwa als Lars Rudolph als dubioser Telefonheiler seinen Einsatz verpasst und die Kolleg*innen zur Improvisation zwingt. Dieser Moment zählt aber zu den Gelächter hervorrufenden Highlights des Stücks, zusammen mit Gags wie „Konsensstreifen“, dem „Fingertelefon“ und einer phallus-lastigen Muskelshow. Und, nicht zu vergessen, dem Moment als eins der armen Schweine nach einer langen Sequenz zum Eingesperrt-Sein, Geschlachtet-Werden und Sich-Anstecken ganze Hände voll einzeln verpackter Snack-Salamis ins Publikum wirft.

Komplexe Texte und überfordernder Lärm

Was zur Uraufführung des Stücks im Juni letzten Jahres noch ein Spiegel der sich zeitgleich abspielenden Realität war, wird jetzt langsam zu einer Rückschau. Die pandemiebezogene Twitter-Kurve ist abgeflacht; Social Media, die Nachrichten und die Politik widmen sich aktuell anderen Dingen. Das macht sich am Text bemerkbar, der sich immer wieder auf nicht mehr gültige Corona-Regeln bezieht, erinnert aber auch daran, dass es eben noch nicht vorbei ist, auch wenn in den Theatern mittlerweile wieder mehr als 50 Prozent Auslastung erlaubt ist.

Am Ende gibt es ein furioses Monolog-Finale von Julia Wieninger, die mit ihrer Intensität alle in den Bann zieht. Von gestisch ganz groß bis ganz klein spuckt sie sprachlich präzise Gift, legt mit Gusto einen überzogenen Wiener Dialekt auf, schraubt sich in empört-wütende Höhen und wird zuletzt noch zur beinahe schadenfreudigen Jelinek mit self-awareness: Nach stundenlangem Reden könnte es noch weitergehen, aber eine Zugabe wäre zu viel. Kaum ist ihr sirenenartiges letztes „Nein“ verklungen, brandet Applaus auf. Während die einen noch mit stehenden Ovationen ihrer Begeisterung Ausdruck verleihen, wollen sich die anderen schon auf den Weg machen. Vereinzelt haben Personen auch schon während der Inszenierung das Weite gesucht, vielleicht überwältigt von der komplexen Dichte des Textes, die den Kopf rauchen lässt, oder der Dauer von drei Stunden oder dem wortwörtlichen Lärm, der zeitweise von der Bühne ins Publikum schwappt. Es ist viel los in dieser Inszenierung, alles läuft auf Anschlag und Überforderung ist verständlich – aber genau die lässt den Abend dem Text mehr als gerecht werden.