Stimme für die Überlebenden


Diskurs

„Gefühle sind Atmosphären […]. Denken Sie an die Schwere der Trauer auf einer Beerdigung oder an die hebende Freude auf einem Fest […] als Atmosphären sind sie potenziell für alle anwesenden Menschen spürbar.“ So äußert sich der Philosoph und Begründer der Neuen Phänomenologie Hermann Schmitz im Interview mit „Philosophie Heute“ 2017. Ist diese Theorie übertragbar auf unser heutiges Leben? Wenn wir nicht zeitgleich anwesend sind und den physischen Raum teilen können, sondern uns virtuell begegnen: Was bedeutet das für ein Festival wie den Mülheimer Theatertagen?

Nach dem Eröffnungs-Stream von Christine Umpfenbachs „9/26 - Das Oktoberfestattentat“ war das Publikum zum Nachgespräch per Zoom eingeladen. Mit dabei die Regisseurin und Autorin Christine Umpfenbach, ihr Ensemble und die drei Überlebenden des Attentats Brigitte Hossmann, Hans Roauer und Robert Höckmayr. Das Stück thematisiert den rechtsextremen Terroranschlag am 26.9.1980 in München, bei dem 13 Menschen getötet und 221 durch eine Bombe verletzt wurden. Was ein politischer Auftakt des Festivals!

Mit Moderator Sven Ricklefs diskutierten Künstler:innen und Publikum über kollektives Verdrängen, bürokratische Hürden und die Bedeutung von Aufklärungsarbeit. Was zu Beginn noch stark einem Interview mit der Regisseurin ähnelte, wurde im Verlauf des Abends zu einem intensiven Austausch unter allen Beteiligten. Dass man die Menschen, die noch zuvor in der Inszenierung von Schauspielenden verkörpert wurden, nun vor sich sah und erzählen hörte, gab dem Format Nachgespräch eine neue Ebene.

Gegen das Vergessen

„Die Fotos von Tätern sehen wir überall, ich möchte den Überlebenden eine Stimme geben“, betonte Christine Umpfenbach. Und diese sprachen: „Es zieht einen intensiv rein“, äußerte sich Hans Roauer über die Inszenierung. „Und je öfter diese Taten wiederholt, thematisiert und gezeigt werden, umso besser.“ Dem Vergessen entgegen zu wirken, war kollektiver Wunsch der Produktionsbeteiligten, und dieses drängende Interesse war – selbst über Kamera und Kopfhörer – deutlich zu spüren.

Gleich mehrere Male wurde Dank ausgesprochen: dafür aufzuklären, dafür eine Stimme zu geben, dafür, dass sich dieses Attentat nicht länger hinter bürokratisierten Abläufen verstecken kann. Denn auch die Enttäuschung über und die Wut auf das Versagen von Politik und Stadt breitete sich im digitalen Raum deutlich aus. Die Tatsache, dass rechter Terror in Deutschland nicht als solcher erkannt werde, bestürzt: Schauspielerin Lilly Vogler ist geborene Münchnerin und sagte, dass es „ein Schock“ für sie gewesen sei, als ihr klar wurde, dass sie vor diesem Projekt nichts von dem Attentat wusste. Umso wichtiger war es für die Schauspielenden, intensive Recherchearbeit im Zuge dieses Stücks betreiben zu können: Schauspieler Rasmus Friedrich wollte die Orte, wie den Theresienplatz in München, besuchen, um ein Gefühl für die Geschehnisse zu entwickeln.

Fassungslosigkeit und Bedrückung begleiteten das Gespräch. Die Freude über das gemeinsame Stück Erinnerungskultur, das Christine Umpfenbach mit dem Ensemble und den Überlebenden schaffen konnte, war aber ebenso präsent. Schauspielerin Marie Dziomber erzählt, wie sie mit Brigitte Hossmann an ihrem bayrischen Dialekt gearbeitet habe. Beide müssen herzlich lachen. „Meine Freunde sagten: ‚Jetzt klingt sie wie eine Österreicherin!‘“, erinnerte sich Dziomber. Die vorherrschende Atmosphäre der Betroffenheit löste sich für einen kurzen Moment. Es war bewegend, wie verbunden Regisseurin, Ensemble und Überlebende innerhalb dieser Zusammenarbeit auftraten. Es sprach eine kollektive Stimme aus ihrer Theaterarbeit.

Aufarbeitung im digitalen Raum?

Die wenigen, aber emotionalen Stimmen aus dem Publikum unterstützten die Intention der Produktion: „Die Möglichkeit der Aufarbeitung, die den Betroffenen lange verwehrt wurde, war mehr als überfällig“, so Barbara Westphal, die – wie sie erzählt – am Tag des Attentats 20 Jahre alt war. Unverständnis, Wut, Enttäuschung – wenn auch eine öffentliche Thematisierung inzwischen ermöglicht wurde, so fühlen sich die Überlebenden dennoch von der Stadt München im Stich gelassen: Denn bis heute, 40 Jahre nach dem Attentat, wurden sie noch nicht finanziell entschädigt. Ob sich ihr unermüdliches Engagement auszahlt, wird sich zeigen. Bis dahin bleiben offene Gespräche, wie dieses Nachgespräch, und dokumentarisches Theater, wie „9/26 – Das Oktoberfestattentat“, notwendiger Bestandteil des Aufarbeitungsprozesses.

Und was ist nun das Fazit? Funktioniert eine Aufarbeitung derartig tiefgehender Themen im digitalen Raum? Dieses Nachgespräch bildete auf jeden Fall unsere digitale Wirklichkeit ab: Wir alle hängen seit einem Jahr vor demselben Bildschirm, wodurch eine neue kollektive Emotionalität entstehen konnte. Dennoch bleiben die vereinzelten Kacheln, die individuellen Räume. Jede:r muss für sich sich die Gesprächsatmosphäre im heimischen Wohnraum schaffen, um sich auf derartige Gespräche einlassen zu können. Dann wird klar: Nachgespräche über Zoom sind möglich. Wenn Interaktionen ermöglicht werden und Künstler:innen und Gäste so offen sprechen wie an diesem Abend.

Schließlich ist aber Hermann Schmitz’ Gedanke, der eingangs zitiert wurde, nicht abzuwenden: Gefühle sind etwas Leibliches. Wir fühlen unser Gegenüber unmittelbarer, näher, vollkommener und, ganz entscheidend: Wir können uns beistehen, wenn Gefühle zu stark werden. Dieses Beieinandersein erleben wir in der digitalen Parallelwelt nicht.