Es war Feiertag


Kolumne

An diesem Donnerstag gewann der BVB den DfB-Pokal gegen Leipzig im Berliner Olympiastadion. Den vierten Tag in Folge bekämpften sich militante Palästinensergruppen und die israelische Armee in Luftangriffen und Straßenkämpfen. Der ökumenische Kirchentag wurde begangen. Es war Christi Himmelfahrt. Heute ist Vatertag, erinnerte mich meine Mutter per Kurznachricht. Das Wetter war wechselhaft, nicht sonderlich kalt, aber verhangen und regnerisch. An diesem Donnerstag wurden auch die Mülheimer Theatertage eröffnet. Es war Feiertag.

Wir treffen uns zur Redaktionssitzung zum ersten Mal persönlich und schauen zusammen die Eröffnungsinszenierung. Es ist bereits nach 22 Uhr, als ich auf dem Nachhauseweg bin. Ich stehe am Gleis, der RE11 fährt ein mit Endstation Dortmund. Ich trage meine Maske. In meiner Tasche befindet sich wegen der Ausgangssperre eine leicht zerknüllte Bestätigung der Festivalleitung über eine befristete berufliche Tätigkeit. Der Bahnhof ist fast verlassen. Ein paar wenige andere Menschen kann ich ausmachen. In meinem Zugabteil bin ich, soweit ich schauen kann, die einzige Person. Surreal wirkt es, ganz alleine in dem fahrenden Abteil zu sitzen. Wir halten an drei Stopps, es steigt niemand ein und auch niemand aus. Die Geräusche des Zuges klingen überlaut, es gibt nichts, das sie abfedern könnte.

Am Bahnhof in Dortmund das gleiche Bild. Gut beleuchtete Gleise, kaum jemand unterwegs. Bahnpersonal, ich sehe einen Mann in einer Bundeswehruniform, eine Frau ungefähr in meinem Alter. Einzelpersonen. Auf dem Weg zur Stadtbahn nehme ich schon aus der Entfernung eine junge Frau wahr, die eine Decke um ihre Schultern geschlungen hat. Sie ist barfuß und schmutzig. Auch die Maske, die sie ja im Bahnhofsgelände tragen muss, ist verdreckt. Sie fragt mich nach Geld. Ich schaue in ihre blauen Augen. Sie hat feine Züge, glattes braunes Haar. Sie sieht so jung aus, nicht viel älter als 20. Irgendwas lässt mich stehen bleiben, ich suche nach meinem Portemonnaie und fische Kleingeld heraus. Sie holt unter der Decke einen Becher hervor, so einen in dem man sonst das Eis bei der Eisdiele serviert bekommt, wenn man keine Waffel möchte. Es ist nicht schön, aber ich denke, dass ich froh bin, dass ich sie nicht anfassen muss. Die Straßenbahn kommt, ich steige ein, gerade als zwei Beamte vom Ordnungsamt das Gleis betreten.

An der Kampstraße steige ich um. Neben mir steht ein junger Typ mit Bier in der Hand, die Maske nur halb aufgesetzt. Hinter ihm in einiger Entfernung tanzt ein Betrunkener zu basslastigem deutschen Hip-Hop, der aus irgendeiner Musikbox dröhnt, die jemand am Gleis herumträgt. Immer wieder ruft er laut im Delirium „Das ist doch schön!“. Ein letztes Mal fährt heute für mich eine Bahn ein. Ich steige ein, so auch der junge Typ. Ich sitze im Vierer entgegen der Fahrtrichtung, er im Vierer gegenüber in Fahrtrichtung. Als er mich anspricht, muss ich nur aufschauen und den Kopf leicht nach rechts drehen, um ihm in die Augen zu sehen.

- Entschuldigung?

Er wirkt wirklich so, als täte es ihm leid, dass er mich anspricht. Er schaut sehr gelassen. Fast ausgelassen. Ich signalisiere, dass ich ihm zuhöre. Endlich setzt er seine Maske richtig auf sein Gesicht.

- Das war gerade der Hauptbahnhof, oder?

Durch die Maske ist alles dumpf, ich verstehe ihn nicht. Er wiederholt seine Frage. Obwohl ich sie jetzt akustisch verstehe, bin ich verwirrt.

- Nein, das war die Kampstraße.

- Das muss der Hauptbahnhof gewesen sein. Ich muss noch einmal umsteigen, widerspricht er mir.

- Da, wo wir gerade eingestiegen sind, das war die Kampstraße, bekräftige ich.

Er schaut mich zweifelnd an.

- Echt?

- Ja, sage ich mit Nachdruck und einem Kopfnicken. Er schaut so verwirrt, dass ich lächeln muss. Er scheint darüber nachdenken zu müssen. Ich wende mich ab, schaue aus dem Fenster, obwohl es da nichts weiter zu sehen gibt als die Reflektionen des Inneren der Bahn, in der ich sitze. Mein Mitfahrer vom Vierer gegenüber fängt an zu lachen.

- Du hast recht. Ich bin schon einmal umgestiegen, lacht er weiter und schüttelt den Kopf über sich selbst. Ich stimme in sein Lachen ein.

- Weißt du, heute war das Ende vom Ramadan. Und ich habe vier Bier getrunken. Also, eigentlich trinken wir nicht. Eigentlich.

- Und jetzt bist du total betrunken von den vier Bieren?

- Es ist immer verrückt am Ende der Fastenzeit. Manchmal vergesse ich wie anstrengend das ist, antwortet er, während er sich mit der freien Hand über die Augen reibt.

Er steht auf und drückt den Halteknopf. Ich krame in meinem peinlich leeren Wissensschatz zum Islam. Ich habe mal was zum Ramadan geschaut. Es gibt da diese Grußformel für die muslimischen Feiertage. Als er zur Tür geht, meine ich zu wissen, wie sie heißt.

- Wie sagt ihr bei euch? Eid Mubarak?

Ich frage es ihn mehr, als dass ich es ihm wünsche, aber ich sehe, dass sich um seine Augen Falten bilden, die sein Lächeln verursachen. Er nickt.

- Ja, Eid Mubarak.

Wenn er es ausspricht, klingt es anders. Schön. Mehr wie Eed Mubarek mit gerolltem R und mit Lauten, die ich so nicht benutze.

- Einen schönen Abend dir, grüßt er fröhlich und verlässt die Straßenbahn.

Als ich die Bahn schließlich verlasse, laufe ich noch wenige Minuten durch die Nacht bevor ich meine Haustür erreiche. Ich wohne in einem Stadtteil von Dortmund, in dem viele Muslime und Muslimas leben. Heute höre ich genauer hin. Hinter den Rolläden sprechen und lachen Menschen. Etwas später noch, als ich schon zuhause bin, knallt ein Feuerwerkskörper.

An diesem Donnerstag gewann der BVB den DfB-Pokal gegen Leipzig im Berliner Olympiastadion. Den vierten Tag in Folge bekämpften sich militante Palästinensergruppen und die israelische Armee in Luftangriffen und Straßenkämpfen. Der ökumenische Kirchentag wurde begangen. Es war Christi Himmelfahrt. Heute ist Vatertag, erinnerte mich meine Mutter per Kurznachricht. Das Wetter war wechselhaft, nicht sonderlich kalt, aber verhangen und regnerisch. Die Mülheimer Theatertage wurden eröffnet. Überall auf der Welt feierten an diesem Donnerstag Millionen Muslime und Muslimas das Fest des Fastenbrechens Eid al-Fitr. Es war Feiertag.