Ist Frau Berg eine Kassandra?


Gespräch

Ein Tuscheln zieht sich durch die Stuhlreihen, es herrscht eine angespannt-skeptische Stimmung im Saal der Stadthalle. Nicht nur Sibylle Bergs Text fordert heraus, auch die bildstarke Inszenierung von Regisseur Ersan Mondtag polarisiert. Wer mit der Autorin gerechnet hat, wird enttäuscht: Sibylle Berg liegt ohne Stimme im Bett und wird von ihrem Lektor Nils Tabert vertreten. Dafür ist Regisseur Ersan Mondtag auf dem Podium, schließlich habe Sibylle Berg ihm den Text als Aufforderung geschickt. Seiner Meinung nach ist sie, genau wie Elfriede Jelinek, eine der intellektuellsten Frauen der Gegenwart. Trotz Mondtags Erläuterungen zur Differenzierung von Zustand und Intellekt, Körper und Sprache und seiner Selbstzuschreibung als ‚Zustands-Fetischist‘ merkt man, dass andere Interessen im Raum schweben. Das Publikum bleibt angespannt, wartet auf die Klärung elementarer Fragen.

„Sibylle Berg ist eine große Menschenfreundin“

„Ist Frau Berg eine Kassandra?“, fragt Moderator Sven Ricklefs. Angespannte Erwartung im Saal.  2016 schreibt Berg den Stücktext, 2018 wird er inszeniert: Kann sie gesellschaftliche Entwicklung voraussehen? Berg werfe einen kritischen Blick auf die Welt, sei aber auch eine große Menschenfreundin, so Tabert: „Ihr seid so blöd, ihr hättet jetzt alle Zeit der Welt. Und was macht ihr? Ihr setzt den Wettbewerb fort.“ Die Autorin sieht den Text als eine komische Utopie, für Tabert ist Wonderland Ave eine Dystopie, die vertanen Chancen der Menschen aufzeigt, die immer wieder in die gleichen Fallen tappen.

Mondtag stellt brutale Fragen: „Wofür lohnt es sich zu leben? Das Leben was wir hier leben, ist schon ziemlich scheiße. Ist das wirklich lebenswert? Ist es nicht besser, dass uns etwas vernichtet, weil alles sowieso keinen höheren metaphysischen Sinn hat?“ Nietzsches Übermensch sei heute im Roboter manifestiert, schließlich habe der Mensch den Roboter programmiert, der jedoch immer einem Algorithmus unterstehe, so Mondtag. Wonderland Ave thematisiert immer wieder einen „Hauptgewinn“, doch bis zuletzt bleibt unklar, worin dieser besteht. Die Inszenierung hat ihn als Auslöschung der Menschen gedeutet, als Erlösung. Ein hitziger Moment: „Ganz banal könnte man sagen, das Wort Erlösung besteht aus ‚Er‘, also einem Mann, und ‚Lösung‘“, sagt Mondtag und sorgt  damit für empörte Lacher. Die Erlösung sei ein christliches Narrativ, klar aus einer ideologischen Ecke. „Glücklich wirst du im Christentum nur, wenn du erlöst wirst. Was für ein scheiß‘ Leben!“ Mondtag verlangt nach einem Wein. 

„Im Moment wird alles ‚bauhaus-verherrlicht“

Die Unperfektheit der Roboter treibt Moderator Ricklefs und auch die Zuschauer:innen weiter um. Zu diesem Thema gibt es noch immer offene Fragen. Eine Zuschauerin spricht den gegenwärtigen Zwischenraum an, indem Menschen und Roboter zu gewissen Zeitpunkten fast austauschbar wirkten. Die Annäherung von Robotern und Menschen in der Inszenierung habe ihr gefallen. Hier lässt Regisseur Mondtag eine vermeintliche Bombe platzen: Einer der Roboter ist ein Mensch. Doch die Bombe zündet nicht, denn nicht viele Zuschauer:innen scheinen das so verstanden zu haben, auch Frau Berg wisse nichts davon. Vereinzelt hört man staunende Lacher aus dem Publikum.

Mondtag ist nicht nur Regisseur, sondern auch Bühnenbildner. Auch das Bühnenbild von Wonderland Ave stammt von ihm. Es strotzt vor Bauhaus-Fantasien (Stichwort Oskar Schlemmer) auch Einflüsse der frühen Industrialisierung sind eingearbeitet worden. „Im Moment wird alles ‚bauhaus-verherrlicht‘“, betont Mondtag, „dabei ist das eigentlich ziemlich hässliche Architektur.“ Empörte Lacher im Publikum. Ein Besucher stürmt wütend und lautstark („Weder das Bauhaus noch das Christentum verstanden!“) aus dem Saal. Bauhaus und das Christentum gleichzeitig zu attackieren, sei wohl zu viel, stellt Mondtag fest. 

„Ist das nun ein Stück oder ein Diskurs?“

Die Stimmung heizt sich weiter auf: Ein Herr stellt eine Frage, die sich eindeutig gegen das Stück richtet: „Ist das nun ein Stück oder ein Diskurs?“ Das Stück sei für ihn nichts anderes als eine Aufreihung momentaner gesellschaftspolitischer Probleme. Tabert beschwichtigt: Den Vorwurf könne man auch an Elfriede Jelinek und René Pollesch richten. Er sehe das anders. Es handle sich um eine andere Form von Theater, um den Versuch, Theorie und Gedanken sinnlich erfahrbar zu machen. Für Mondtag ist eine Inszenierung ein Tanz mit dem Text, Theater eine Möglichkeit, Kontexte herzustellen. Ginge es nur um die naturalistische Abbildung von Zuständen, würde er Netflix-Serien drehen. Seine Inszenierung sei nur ein Blick, mit dem Text umzugehen, er gehe davon aus, was er neben dem Text noch sehe. Wer inszeniert welchen Text aus welchem Grund? 

Ganz im Sinne des ‚Stücke‘-Festivals, empfiehlt Mondtag, unabhängig von der Inszenierung, den Text zu lesen: Der Text für sich sei genial. Dem ist zuzustimmen und nichts mehr hinzuzufügen. Also: Lesen Sie diesen Text.