29. Mai 2019 •
Heute sitzen die Zuschauer:innen beim Publikumsgespräch ganz nah dran. Würden die Leute in der ersten Reihe die Hand ausstrecken, könnten sie dem Ensemble ein Bier anreichen. Die Schauspieler:innen sitzen mit den Zuschauer:innen auf Augenhöhe, auf der eben noch bespielten Bühne. Ein idealer Ort, um dem Schauspielhaus Leipzig ein bisschen näher zu kommen.
Dieser besondere Ort ist dann auch direkt Thema unter den Anwesenden. Hinter den großen Scheiben schieben sich die Autos vorüber, zwei Menschen rennen Huckepack vorbei, ein Mann mit Hund bleibt stehen. Auch die Uraufführung in Leipzig fand an einem besonderen Ort statt: Die Zuschauer:innen blicken auf den Leipziger Dittrichring, auf dem vor der Wende die Route der berühmten Montagsdemonstrationen für die Wiedervereinigung stattfanden. Heute laufen dort die Rechten am Montagabend vorbei.
Wer inszeniert eigentlich wen?
Bühnenbildnerin Ramallah Aubrecht habe die Gesellschaft und die verschiedenen Zeitebenen des Stücks (Vergangenheits- und Zukunftsebene) miteinbeziehen wollen und bediente sich der vielen vietnamesischen Geister-Mythen, die traditionell eine wichtige Rolle einnehmen. „Die Gespenster stehen da am Straßenrand und klauen Leuten Geld“, meint Regisseur Philipp Preuss. Die Schauspieler, die in der Inszenierung auch mal draußen vor der Scheibe als Schatten oder kaum erkennbare Figur auf der anderen Straßenseite stehen, verkörpern einen Teil der vietnamesischen Kultur. „Durch ihre Höflichkeit und Zurückhaltung fallen sie oft durchs Raster.“ Die Beschäftigung mit der vietnamesischen Kultur und Gesellschaft sei ein wichtiger Teil seiner Arbeit gewesen, betont Autor Thomas Köck.
Zwischendurch wurde sogar überlegt, atlas komplett auf vietnamesisch zu inszenieren: Während der Proben aber wurde schnell klar, das der bestellte Dolmetscher das nicht für umsetzungsfähig hielt. „Er hat nichts verstanden“ berichtet Schauspieler Denis Petkovic. Durch eine zu tiefe oder zu hohe Intonation verändert sich der Inhalt des Gesagten. Spannend hier: Der Dolmetscher war wie der Protagonist in Köcks Stück Gastarbeiter in einer deutschen Fabrik. „Wer inszeniert hier eigentlich wen?“, fragt Regisseur Preuss daraufhin. Die fehlende vietnamesische Sprachkenntnis glich das Team mit der Sprachvielfalt des Ensembles aus, das zwischendurch französisch, serbisch, schwedisch oder schweizerdeutsch spricht. „Die verschiedenen Sprachen machen deutlich, dass es ein menschliches Problem ist und kein vietnamesisches“, lobt eine Zuschauerin wohlwollend und nickt dem Regisseur zu.
So funktioniert Inklusion
Die Publikumsdiskussion ist geprägt von Sprache: „Sprache soll den Raum haben, sich zu entfalten“ betont Dramaturgin Katja Herlemann. Oft verkörperten die Schauspieler:innen mehr als eine Stimme. „Auch die weggelassenen Worte waren gigantisch toll“, sagt eine Frau im Publikum begeistert. Die Überforderung der Figuren komme dadurch besonders gut zur Geltung. Generell gibt es viel Lob an diesem gemütlichen Abend. Ein gesprächiges Publikum nimmt dem Moderator seine Aufgabe ab und leitet das Gespräch selbst. Ein Zuschauer, der vietnamesisch spricht, beantwortet dann auch gleich die offene Frage, welche Rolle die Zeit in seiner Muttersprache spiele. „Wir reden auch von Vergangenem im Präsens“ kommentiert er und erntet daraufhin „Ahas“ von den anderen Zuschauenden.
Weitere „Ahas“ ruft die Erklärung der letzten Szene hervor: „Was soll eigentlich diese Biedermeier-Szene am Ende?“ Um noch eine Zeitebene aufzumachen, habe der Regisseur die französische Herrschaft in Vietnam mit dazu passender Kleidung ans Ende gesetzt. Die Kolonialzeit sei der Ursprung der Konflikte zwischen Süd- und Nordvietnam. Es sei dem Regisseur ein Anliegen gewesen, das in die Inszenierung einzuarbeiten.
Eine Geschichtsstunde, gespickt mit Gespenstergeschichten geht zu Ende. Der Ort ist perfekt für Gespräche zwischen Schauspieler:innen, Autor, Regisseur, Bühnenbildnerin und Publikum. Gute Gespräche seien auch schon während der Proben mit Passant:innen geführt worden. Die vietnamesische Community in Leipzig nehme das Thema des Stücks ebenfalls gut auf. „So funktioniert Inklusion“, meint Dramaturgin Katja Herlemann.