18. Mai 2019 •
Im Foyer des Theaters an der Ruhr hat sich eine kleine Menge versammelt. An kleinen runden Tischen vor dem Podium sitzen große Menschen. Moderatorin Stephanie Steinberg begrüßt das erwachsene Publikum bei der Jurydebatte zu den diesjährigen KinderStücken knapp und überlässt das Feld gleich der Jugendjury. Sechs Schüler:innen zwischen 13 und 16 Jahren haben die Kinderstücke gelesen und über ihren Favoriten abgestimmt. Kristo Šagors Geschichte von der Frage nach der Liebe habe sie am meisten berührt.
Mit gewissenhafter Quellenarbeit begründen sie ihre Entscheidung. Zitate aus dem Stück werden mit konkreter Seiten- und Zeilenangabe als Beweis für die Tiefe der Figuren und die stark poetische Sprache angeführt, die einen „Film im Kopf“ abspielen ließe. Ausschlaggebend für ihre Wahl ist die unerwartete Enthüllung, dass die Protagonistin eigentlich tot ist und die Geschichte retrospektiv erzählt. Jubel im Publikum und ein ganz persönlicher Preis der Jugendjury für ihren Favoriten: Mit sechs Notizbüchern für je sechs neue Stücke sagt das junge Publikum alles über seine Erwartungshaltung an Šagors künftige Arbeit aus.
„Die einsamste Jurydebatte, die ich bisher mitgemacht habe“
Die Fachjurydebatte stimmt Theaterleiterin Jutta M. Staerk mit einer traurigen Note an: „Die Mülheimer Kinderstückdebatte“, sagt sie sichtlich betroffen, „ist die einsamste Jurydebatte, die ich bisher mitgemacht habe. Man darf vor Beginn ja nur über das Wetter reden.“ Die Stücke, das ist wichtig, sind ein Tabu-Gesprächsthema unter den Juror:innen. Erst während der öffentlichen Diskussion wird die Juryentscheidung geformt und gefällt.
Bevor es in die heiße Phase geht, zieht Regisseur und Mitglied des Auswahlgremiums Werner Mink zum zehnjährigen Jubiläum der „KinderStücke“ ein erstes Resümee: Zwei Frauen und sieben Männer haben den Preis bisher gewonnen. In diesem Jahr liege der Fokus der nominierten Texte vor allem auf den Themen Identität, Liebe und Freundschaft. Gleichermaßen falle ihm auf, dass kein Stück für Fünf- bis Siebenjährige vertreten sei, was ihn im gleichen Zug zu der Frage führt, wie man künftig Autor:innen für diese Altersgruppe gewinnen könne.
Inszenierungs- statt Textbewertung
Nach der ersten Diskussionsrunde sind zwei der Stücke aus dem weiteren Auswahlverfahren ausgeschieden. Zuerst: Ich, Ikarus von Oliver Schmaering, dem Mülheimer KinderStückePreisträger 2018. Schmaerings Behandlung des Ikarus-Mythos wird für seinen „hochpoetischen“ (Staerk) Text gelobt, der beim wiederholten Fallen des Protagonisten eine „physische Reaktion beim Lesen“ (Mink) verursacht habe. Die größte Kritik richtet sich allerdings gegen die strenge Verhaftung am ursprünglichen Mythos. Theaterkritikerin Cornelia Fiedler hält sie für eine „Jungsgeschichte“ mit der Sonne als zweifelhafte Mutterfigur. Außerdem, so Staerk, setze die Trotzhaltung in der seinen Tod rechtfertigenden Erzählung des Ikarus einen falschen Fokus. Das Stück nutze mit seinem Motiv des ikarusschen Untergangs im Mittelmeer nicht die Chance, an aktuelle Themen anzuknüpfen und den Stoff so aufzuwerten. Im Anschluss lässt Staerk die Bühnenumsetzung in ihre Beurteilung einfließen. Ihr Fazit: Der Text werde nie so existentiell, wie die Inszenierung versuche zu suggerieren.
Als zweites Stück wird Dirk Lauckes „Die größte Gemeinheit der Welt“ einstimmig aus dem weiteren Wettbewerb herausgenommen. Auch bei Laucke bezieht sich die Jury in ihrer Begründung immer wieder auf die Inszenierung. Das Problem der „Figurenflut“ (Staerk) sei auf der Bühne durch schnelle Kostümwechsel gut gelöst worden; außerdem habe das „verwaschene Sprechen“ (Mink) auf der Bühne wenig Spaß beim Schauen bereitet. Negativ aufgefallen sind die vom Hauptplot ablenkende Nebenhandlung und das zusammengefasste Ende in der Bühnenadaption. Die Jury scheint ihren eigentlichen Analysefokus, die ursprünglichen Autorentexte, aus dem Blick verloren zu haben.
Nachspielbarkeit und Zeitlosigkeit
Die Diskussion verläuft sachte und fast reibungslos. Für Irritationen sorgt allenfalls Moderatorin Stephanie Steinberg mit ihrem Hinweis, Mink solle als erster seinen Aussieb verkünden, weil er (sie hält einen Zettel hoch) in ihrer alphabetischen Reihenfolge an erster Stelle stehe. Nicht nur die Jury wundert sich. „Wegen ‚Werner‘ oder ‚Mink‘?“, fragt Fiedler, das Publikum lacht.
In die zweite Runde kommen also Katja Hensels „Haydi! Heimat!“, Eva Rottmanns „Die Eisbärin“, und Kristo Šagors „Ich lieb dich“. In der zweiten Entscheidungsphase macht Staerk den Anfang und vergibt ihre endgültige Stimme nach einigem Abwägen an Šagors „Ich lieb dich“. Aus zwei Gründen: der Nachspielbarkeit und der Zeitlosigkeit, die Šagors Stück zugrunde lägen. Fiedler hält sich vorerst zurück, Mink schließt sich zögernd Staerks Entscheidung an. Er lobt, dass „Ich lieb dich“ ein Schauspielerstück sei, das in der dialogischen Form aufgehe.
Fiedlers Stimme hat jetzt keinen Einfluss mehr auf die Wahl des Gewinnerstücks. „Das haben wir strategisch nicht klug gemacht“, wirft sie in den Raum. Ein wenig halblaut stimmt sie für „Haydi! Heimat!“.