Auge um Auge, Hund um Hund


Autor*innen

Als wir den Vorstellungssaal betreten, ist er schon erfüllt von sanften Klavierklängen. Diese Klänge fangen uns auch später wieder auf, als die letzten Verse von Christina Ketterings „Weiß ist keine Farbe“ gesprochen sind und wir Zuschauer:innen erstmal kurz Luft holen müssen. Eigentlich kann man sich dieses Theatererlebnis nur vorstellen, wenn man sich immer wieder eine sehr atmosphärische Musik ins Ohr ruft. Tatsächlich erfahren wir im Nachgespräch von Dramaturgin Maren van Severen, dass Regisseur Markolf Naujoks die Musik des Stücks selbst komponiert und geschrieben hat. Die besondere Musik in seinen Inszenierungen sei seine Handschrift.

Ein zweites Element sollten wir uns vor Augen rufen, um uns die Inszenierung vorstellen zu können, dieses Mal ein Bestandteil aus Marinas Stefans Bühnenbild. Eine große Projektionsfläche thront wie ein rundes Fenster, vielleicht auch wie ein Vollmond über der Bühne. Auf dieser Fläche erscheinen während der meisten Szenen schwarz-weiße Stadtlandschaften. Schwebende Häuserreihen versetzen uns einerseits an den Ort des Geschehens und deuten andererseits eine gewisse Realitätsferne an. Manchmal wird sogar der Kopf eines Tigers projiziert und bereitet uns auf gefährliche Momente vor. Unterhalb dieses Vollmondes sind mehrere Holzpodien in verschiedenen Höhen platziert, links am Bühnenrand steht ein Klavier.

Vor diesem Hintergrund stellen sich zunächst Lynn und Sophie (Mutter und Tochter), dann Anna und Berkay (die Nachbarskinder) vor. Ganz besonders die Stimme der achtjährigen Sophie (Nadja Duesterberg) sticht mit einer verwegenen Rauheit aus der Reihe hervor. Sie öffnet mit einem mysteriösen Prolog die Handlung, einem Prolog, der von Entführung und von Herrn Matheis Hund spricht.

Das Mysterium

Sophie und ihre Mutter Lynn (Davina Donaldson) sind gerade erst in die Siedlung gezogen. Von Beginn an rankt sich ein Mysterium um das Mutter-Tochter-Paar. Wenn die beiden sich unterhalten, geht eine schwere Stille von Sophie aus. Wenn Sophie unten im Hof auf die beiden Freunde Anna (Philine Conrad) und Berkay (Faris Yüzbaşioǧlu) trifft, dann antwortet sie auf keine einzige Frage und weigert sich dickköpfig, mit ihnen zu spielen. Dabei sind Anna und Berkay so reizend zusammen anzusehen, bringen mit derben „Deine-Mutter-Witzen“ das Publikum zum Lachen, balancieren durch die Gegend, necken sich, langweilen sich, sind unbeschwert. Vor allem aber sind die beiden neugierig. Die „Neue“ wird zu ihrem spannendsten Fall. Die Hauptfrage der Ermittlung: Warum hat Sophie helle Haut, wenn ihre Mutter doch dunkle Haut hat? Die spielerisch-rätselhafte Form der Ermittlung spricht eine erste Problematik des Stückes an und zwar die Beschränkung der Beobachter:innen auf eine Außenperspektive.

Nach und nach werden die Zuschauer:innen auf die Fährte eines verschwiegenen Vorfalls gelockt, des Vorfalls von dem Tag, als die Sonne so schien. Umkreist wird dieser Vorfall immer wieder mit metaphorischen Märchenanspielungen. Langsam kristallisiert sich heraus, dass die Löwenkönigin Lynn angegriffen wurde und dass Prinzessin Sophie einen tiefen Drang verspürt, ihrer Wut darüber Ausdruck zu verleihen. Weil ihre Mutter aber nicht anders als in verschlüsselten Märchen über das Geheimnis sprechen kann, sieht Sophie sich gezwungen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Sie wird von Nadja Duesterberg als fest entschlossene Rächerin mit Kriegsbemalung dargestellt. Die Poesie von Lynns Fabeln und ihren zarten Gesängen stößt immer wieder auf die Wut ihrer Tochter.

Verdrehte Welt

In diesem Stück ist es die Tochter, die ihre Mutter beschützen will und mit einem Speer deren Ehre verteidigt. Die Emotionen, die sich um den Zusammenhalt von Mutter und Tochter ranken, werden von den Schauspieler:innen mal vorsichtig, mal eindringlich an uns heran getragen. Annas und Berkays naive Neugier tastet sich immer weiter im Geschehen vor, bis es endlich zur großen Erklärung von Sophies Racheplänen kommt: Ihr Nachbar Herr Mathei hat Lynn einfach ins Gesicht gespuckt. In einem feinfühligen Bericht wird der Grund für Sophies Schmerz aufgedeckt. Der Racheplan gegen Herrn Matheis unschuldigen Hund verweist auf die fließenden Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen Helden und Monstern.

Mit einem offenen Ende und einem langsam auslaufenden Flimmern auf der Projektionsfläche im Hintergrund lässt uns „Weiß ist keine Farbe“ mit einem mulmigen Gefühl auf unseren Stühlen sitzen. Mithilfe von Annas und Berkays Ermittlung sind wir Zuschauer:innen ganz nahe an Sophie herangekommen. Ihre Rache hinterlässt aber einen bitteren Nachgeschmack und bleibt ohne Kommentar in der Dunkelheit des Raumes einfach so stehen. Es ist trotzdem eine Mulmigkeit der guten Sorte, die unsere Nachdenklichkeit in sinnliche Musik hüllt und uns dem Gesehenen noch für einige Augenblicke nachhängen lässt.