Therapie oder Theatertext?


Gespräch

Wie gewohnt hat man sich im Kammermusiksaal der Stadthalle zum Publikumsgespräch zusammengefunden (Akteure auf dem Podium, Publikum unten im Saal – eine Raumaufteilung, die zum ersten Mal im Laufe des Festivals offen kritisiert wird, und zwar von Schauspieler Rami Khalaf. Der spricht allerdings nur Französisch – somit bleibt seine Aussage leider unkommentiert).

Moderator Michael Laages kündigt das internationalste Publikumsgespräch des Festivals an. Maia Morgenstern bekommen die Anwesenden hier nicht zu Gesicht, dafür haben die anderen Mitglieder des „Empire“-Ensembles umso mehr zu erzählen.

Kleiner Kampf der Sprachen

Der Entstehungsprozess des Stücks sei sehr zeitintensiv und komplex gewesen, erklärt Milo Rau. Team und Akteure hätten zunächst lange zusammen gesessen und einfach nur erzählt (Deutsch und Französisch sind die beiden Sprachen, die alle verbinden!). „Wenn man auf einen einzelnen Menschen schaut, spiegelt sich darin die ganze Welt“, begründet der Schweizer Theatermacher unter Berufung auf Bourdieu seine Entscheidung, vier Einzelschicksale in einem Theaterabend zu verbinden. Die Erzählungen der Akteure habe das Team aufgezeichnet und transkribiert, der Textkorpus sei dann Stück für Stück immer weiter gekürzt und umgebaut worden. Im zweiten Teil des Probenprozesses habe man dann auf der Bühne gespielt und die Texte in die Muttersprache rückübersetzt. „Es war ein kleiner Kampf der Sprachen“, meint Akillas Karazissis lachend. „Kein kleiner, bei mir war der Kampf sehr groß“, fügt Ramo Ali hinzu. Er beherrsche die kurdische Sprache nur mündlich und es sei eine große Herausforderung gewesen, den deutschen Text in seine Muttersprache zu übersetzen, ohne dabei etwas niederschreiben zu können. Er hätte bis heute kein schriftliches Material seines Textes zur Hand.

Heiliger Ort

Die Tatsache, dass in der eigenen Muttersprache auf der Bühne gesprochen werden darf, bringt Ramo Ali zum Strahlen. Zunächst ist er auf dem Podium noch etwas schüchtern, probiert das Mikro dann aber mit einem leisen „Hallo“ aus. Seine Zurückhaltung macht ihn umso sympathischer. Doch schon nach kurzer Zeit fühlt er sich in seiner Rolle auf dem Podium wohl. „Ich rede nicht über mich in Empire, sondern über die verlorene Kindheit vieler Menschen“ erklärt er. Obwohl sich viele Menschen mit den erzählten Schicksalsschlägen identifizieren könnten, bleibe das, was er erzähle, immer seine eigene Geschichte. Er brauche dringend eine Therapie und finde diese tatsächlich im Kontakt mit dem Publikum. „Das Theater ist ein heiliger Ort für mich geworden.“

Europa ohne Grenzen

Milo Rau ist es besonders wichtig, zu verdeutlichen, dass „Empire“, wie auch die anderen beiden Teile seiner Europatrilogie („The Civil Wars“ und „The Dark Ages“) im Großraum Europas spiele. Grenzen akzeptiere er nicht, man habe vielmehr versucht, den Geschichtsraum Europas zu beschreiben. Zudem sei es wichtig, mit Schauspielern und nicht mit Zeitzeugen zu arbeiten. Nur so könne jeden Abend wieder die gleiche Geschichte erzählt werden.

Von der linken Seite des Podiums ist während des gesamten Gesprächs ein leises Flüstern zu hören. Mirjam Knapp (von Michael Laages als „die Frau, die die Übertitel gefahren ist, wie man heute sagt“ vorgestellt) übersetzt alles, was besprochen wird, auf Französisch, damit Schauspieler Rami Khalaf am Gespräch teilhaben kann. Dieser wirkt, genau wie Ramo Ali, zunächst ein wenig schüchtern und lehnt lachend das Mikrofon ab, das ihm von Akillas Karazissis angeboten.

Den Beamer verteidigen

„Ich hätte es besser gefunden, wenn ich nicht von diesem großen Bild (gemeint ist der Beamer, auf den die abgefilmten Gesichter der Akteure projiziert werden) abgelenkt worden wäre. Wieso diese Dopplung?“, ertönt eine Stimme aus den hinteren Reihen des Saals. Das Publikum ist fragelustiger als sonst.

Jetzt fasst sich Rami Khalaf doch ein Herz, denn er muss den Einsatz des Beamers verteidigen. Durch die Leinwand spreche man mit dem Herzen der Zuschauer, die Trennung zwischen Akteuren und Publikum verschwinde.

„Naja wir hoffen auf eine Nachinszenierung, dann kann man das ja anders machen“, fügt Milo Rau verschmitzt hinzu. Nur durch die Kamera könne die wahre Schönheit des individuellen menschlichen Gesichtes wirklich in Erscheinung treten.

Biografie wird zu Geschichte

Akillas Karazissis zeigt sich besonders froh darüber, dass die Inszenierung bald in Athen gezeigt wird. „Das ist etwas ganz Besonderes, denn ein Teil des Textes wird keine Übertitel brauchen.“ Außerdem gebe es Passagen im Text, die man in Griechenland getrost streichen könne. „Jeder in Athen weiß, dass mein Name ungewöhnlich ist. Das brauche ich dort nicht extra zu erwähnen.“ Obwohl er seine Biografie auf der Bühne erzählt, sieht Akillas Karazissis keinen Unterschied zwischen dieser und einer Hamlet-Inszenierung. Sobald die eigene Biografie zu einer Geschichte werde, bekomme sie etwas objektives und stehe stellvertretend für viele andere Biografien.

Michael Laages hat wie gewöhnlich eine ganz persönliche Meinung zum Abend. Er verstehe „Empire“ als Psychogramm der momentanen Fluchtbewegungen weltweit, die in der Inszenierung vom privatem in den weltpolitischen Rahmen übertragen werde (allgemeines Nicken auf dem Podium bei denen, die den Faden bei Herrn Laages ausführlicher Sachlagenbeschreibung nicht verloren haben). Für eine Zuschauerin ist „Empire“ nichts anderes als eine moderne griechische Tragödie (sehr zum Gefallen Akillas Karazissis‘, der sich unter allgemeinem Gelächter für den Zusatz „griechisch“ bedankt). Ramo Ali hingegen ist sich gar nicht sicher, ob er „Empire“ überhaupt als Theaterstück bezeichnen könne. Mit jeder Aufführung werde etwas Neues in ihm geboren, es sei eine sehr intensive Erfahrung auf der Bühne. Es wird deutlich, wie viele verschiedene Interpretationen des Stückes es allein an diesem Abend im Raum gibt. Und mit jeder weiteren Aufführung werden immer wieder neue hinzukommen.