Die letzte Schlacht


Kolumne

Donnerstag, 26.5. Mild. Sommerabendwetter. Die Sonne, ein orangenes Tigerauge, blitzt ein letztes Mal für dieses Festival über dem Horizont auf. Sie strahlt auch auf die Figuren des Abends, die Preis-Jury. Vor dem Theater stecken sie geheimniskrämerisch die Köpfe zusammen.

Dann geht’s ans Eingemachte. Versöhnlich ist heute Abend nichts. Mitten in der Jury-Diskussion wälzt sich eine Woge der Erregung durch den Saal. Plötzlich stehen die Zuschauer. Mit fletschenden Zähnen bewegen sie sich Richtung Bühne, klettern über die Sitze, fallen übereinander her, schlagen voller Wut auf die Kritiker ein. Die haben sich hinter den Tischen verbarrikadiert, werfen und schlagen mit allem, was sie finden, um sich. Die Situation ist erschreckend. Ein paar Dutzend Männer blockieren den Eingang zum Foyer. Nur mit gewaltigem Aufwand von Polizei und Wachleuten gelingt es, das Theater zu stürmen. Es gibt ein brutales Handgemenge. Blut. Festnahmen. Viele Verletzte, keine Toten.

Nein, so war es nicht. Hier eine Chronologie all jener Jury-Debatten-Ereignisse, die wahrscheinlich (zu Unrecht) in Vergessenheit geraten werden:

22:40 Uhr Ein kränkelnder Mann in der ersten Reihe öffnet seine Thermosflasche. Hagebutte. 

23:19 Uhr Die Temperatur steigt. Auf den zwei Brezeltellern der Jury liegt jeweils eine Brezel weniger.

23:42 Uhr Hinter der Bühne fällt ein Gegenstand geräuschvoll zu Boden. Benjamin von Blomberg: „Da ist jemand in Ohnmacht gefallen.“ Keiner lacht.

00:05 Uhr Die ersten Zuschauer verlassen die Diskussion. Hinter mir ist eine ältere Dame eingenickt. Sie atmet schwer.

00:06 Uhr Ein Nachtfalter zieht seine Kreise über dem Jury-Tisch. Er verschwindet im dunklen Samt des Bühnenvorhangs.

00:33 Uhr Anne Lenk: „Ich höre immer so Stimmen in meinem Kopf.“ Keiner lacht.

00:56 Uhr Michael Laages‘ Gesichtsfarbe hat inzwischen unter dem Scheinwerferlicht einen Rotton angenommen, wie man ihn nur aus der Hölle kennt. Im Saal macht sich Erschöpfung breit.

Nur das Wetter bleibt heute unbeugsam: Immer noch mild. Immer noch Sommerabend.