Stücke 2016
Ein anonymer Absender schickt dem Journalisten Jesko Drescher ein Foto aufs Mobiltelefon. Darauf: Jesko als Junge, ungefähr zwölf Jahre alt, nackt. An diesem Punkt tiefster biografischer Verunsicherung beginnt Thomas Melles Stück Bilder von uns: Jesko und seine ehemaligen Mitschüler – größtenteils Männer um die vierzig in ähnlich prestigeträchtigen Berufen – müssen sich plötzlich damit auseinandersetzen, vor 30 Jahren an ihrem katholischen Elite-Gymnasium möglicherweise Opfer systematischen Missbrauchs geworden zu sein. Dabei geht es Melle weniger um die Fall-Aufklärung an sich. Vielmehr schaut der Mülheim-Debütant vier grundverschiedenen Charakteren wertungsfrei dabei zu, wie sie – jeder für sich und jeder entsprechend urindividuell – um die Deutungshoheit über die eigene Biografie ringen. Waren das nicht einfach nur „andere Zeiten, die Achtziger”, setzen beim einen zum Beispiel sofort Selbstschutzreflexe ein, mit einer „freieren Sexualmoral”? Und wer sagt eigentlich, dass im Verdrängen oder im Ignorieren des Bildes nicht eine ebenso emanzipatorische Strategie liegen könnte wie in der Aufklärung? Ist schließlich die öffentliche Täter-Anprangerung überhaupt möglich, ohne gleichzeitig – unbewusst – die Stigmatisierung der Opfer zu wiederholen? Dank Alice Buddebergs konzentrierter Uraufführungsregie gewinnen diese Fragen am Schauspiel Bonn eine existenzielle (Denk-)Dimension, die sich mitnichten im konkreten Fall erschöpft.
Christine Wahl
Mit: Benjamin Berger, Johanna Falckner, Benjamin Grüter, Mareike Hein, Holger Kraft,
Lydia Stäubli, Hajo Tuschy
Regie: Alice Buddeberg
Bühne: Cora Saller
Kostüm: Emilia Schmucker
Musik: Stefan Paul Goetsch
Licht: Lothar Krüger
Dramaturgie: Johanna Vater