All right. Good night.

Versuch über das Verschwinden

Im März 2014 verschwindet die Passagiermaschine MH370 auf dem Flug von Peking nach Kuala Lumpur kurz nach ihrem Start vom Radar. „All right. Good night.“ – das sollen die letzten Funkworte des Piloten gewesen sein. Darüber, was anschließend mit der Maschine geschah, existieren bis heute lediglich mehr oder weniger plausible Theorien, keine hinreichend belastbaren Erkenntnisse. Wrackteile wurden jedenfalls nie gefunden; man spricht vom „größten Luftfahrträtsel aller Zeiten“. Für die Autorin und Regisseurin Helgard Haug vom Theaterkollektiv Rimini Protokoll verbindet sich dieses Ereignis – zunächst eine rein zeitliche Koinzidenz – mit einer biografischen Zäsur. Zur selben Zeit, als die Malaysia-Airlines-Maschine sich so mysteriös im Luftraum verliert, werden bei ihrem Vater erste Anzeichen von Demenz festgestellt. Eine andere Form des Verschwindens: „Ich zerfalle in Teile“, wird der Vater – ehemals Pfarrer in Süddeutschland – später in klarsichtigen Momenten seiner Krankheit feststellen. „Ich löse mich auf.“

In ihrer Produktion „All right. Good night.“ verbindet Helgard Haug diese beiden Phänomene – das in einer  hochtechnisierten, (computer-)überwachten Welt völlig unerklärliche Abhandenkommen eines Fluggeräts und das schrittweise Sich-selbst-Abhandenkommen eines Menschen – zu einer komplexen Reflexion über Verschwinden, Auflösung und Verlust an sich, in der sich beide Perspektiven wechselseitig durchdringen. Zweieinhalb Stunden nimmt sich der Abend Zeit, den schrittweisen Ich- Verlust des Vaters minutiös nachzuzeichnen: von ersten kleinen Gedächtnislücken – Aussetzern, die charmant überspielt werden, wie die vierfach abgesendete Geburtstagskarte an den Enkel – über einschneidende Persönlichkeitsveränderungen bis zum Ende in einer Demenz-WG. Durchsetzt wird dieses individuelle Verschwinden, das nicht nur für den Vater selbst, sondern auch für die Familie eine beständig sich verschiebende Suche nach Identitätsresten bedeutet, von Berichten der ebenfalls über Jahre sich erstreckenden High-Tech-Fahndung nach dem ominösen Schicksal von MH370. Und mit Berichten von der Suche der Angehörigen nach den verschwundenen Passagieren, die sich – anders als der Demenzkranke – gerade nicht vor ihren Augen gleichsam auflösen, sondern durch die Unabgeschlossenheit der Ereignisse bei physischer Abwesenheit mental quasi dauerpräsent bleiben: eine ganz andere, aber vergleichbar heftige Verlusterfahrung.

Bemerkenswert an „All right. Good night.“ ist aber nicht nur der dichte, komplexe und unaufdringlich verweisungsreiche Text, sondern auch seine Präsentation: Er wird nicht gesprochen, sondern auf einen Gazevorhang projiziert; das Publikum liest ihn den ganzen Abend Satz für Satz mit, während ihm auf der Bühne die Musikerinnen und Musiker des Zafraan Ensembles – nach Kompositionen von Barbara Morgenstern – eine ganz eigene Klangebene hinzufügen. Das macht „All right. Good night.“ nicht nur zu einem gegenwartsdramatischen Abend mit einem überdurchschnittlich intensiven Texterlebnis, sondern auch zu einem, der inszenatorisch und ästhetisch neue Wege beschreitet.                      

Christine Wahl