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Über das gesamte Festival


Sterben und Küssen für Anfänger
Texte und Inszenierungen, Autoren und Kindertheater aus ganz Deutschland – die KinderStücke 2012 in Mülheim an der Ruhr

Geschrieben von Nina Heinrich

Der Mülheimer Dramatikerpreis ist national die höchste Auszeichnung für einen Autoren literarischer Stoffe für die Bühne und wird seit den Siebzieger Jahren im Rahmen der „Stücke“ in Mülheim an der Ruhr verliehen. Zuvor existierten in Deutschland vor allem Geldpreise für fähige Regisseure. Die Inszenierungen sind nur Beiwerk, um der Jury einen Eindruck über die Bühnentauglichkeit eines Textes zu gewährleisten und ihn auf diese Weise einem breiteren Kreis des Theaterpublikums zu präsentieren. Im Bereich der Kinderstücke nach literarischem Gehalt zu forschen, erscheint erst einmal absurd, erfreuen sich Kinder der allgemeinen Auffassung nach doch vielmehr an buntem Schauwert als an Geschichten aus der Welt der Menschen und intelligenter Sprachführung. Weit gefehlt allerdings, den Nachwuchs wieder einmal unterschätzt, lösten bei den Kleinen doch vor allem Aufführungen, in denen auch wirklich erzählt wurde, eine Geschichte, mit sprachlichem Anspruch, Begeisterung aus, als dann seit dem Jahr 2007 sozusagen als Rahmenprogramm der „Stücke“ auch Kinderstücke zu sehen waren. Ein Grundproblem in der Gesellschaft führt zu der niedrig angelegten Latte, was das Kindertheater betrifft, die Lebenswelt, die schlicht eine andere ist, wird mit weniger Anspruch verwechselt. Um bezüglich dieses Missstandes ein Zeichen zu setzen, versetzen die, sozusagen, Eltern der „KinderStücke“, Udo Balzer-Reher, Geschäftsführer, und Stephanie Steinberg, Pressereferentin, der „Stücke“ jene zuvor lose präsentierten Kinderstücke ab 2010 in eine Wettbewerbssituation und gründeten damit ein eigenes Festival für Kinder von sechs bis zwölf Jahren, die „KinderStücke“. „Ein starkes Statement.“, findet Steinberg, „zu einem Theaterstück gehört selbstverständlich eine Idee und ein gewisser Grad an Relevanz. Kindertheater sollte nicht ein Sammelsurium an Lustigkeiten sein, sondern genauso wenig beliebig wie es von jedem Text für Erwachsene auch erwartet wird.“ Balzer-Reher und Steinberg wünschen sich, dass Kinder wieder häufiger mit literarischer Sprache in Kontakt kommen und dass auch mehr Kinderstücke mit literarischem Anspruch entstehen, obwohl das Prestige-Gefälle zwischen Kunst für große und kleine Menschen in Deutschland enorm ist. Um das zu ändern, sind die Kriterien bei den „KinderStücken“ keine anderen als bei den „Stücken“, am wesentlichsten wohl: textbasiert.

Bei den „KinderStücken 2012“ dominierten vor allem die sogenannten „Problemstücke“. Ein großes Thema war Verlust, tatsächlicher oder Verlustängste. Im Wettbewerbsrepertoire gab es nur eine Märchenbearbeitung, in gleich zwei Stücken wurde konkret der Tod eines engen Familienmitglieds verhandelt, in den anderen beiden stand der Verlust einer geliebten Person zumindest zur Debatte. Den Wochenauftakt machte am 20. Mai „Freund Till, genannt Eulenspiegel“ von Katrin Lange und dem Jungen Staatstheater Braunschweig, worin der junge Till mit seinem Vater durch die Lande zieht, in Gefangenschaft gerät und sich behaupten muss. Regisseur und Dramaturg und in Mülheim vor allem Jurymitglied Werner Mink betonte als positiv zu bewerten, dass Till nicht nur Spaßmacher ist, sondern von Katrin Lange noch die Zusatzfunktion eines Mutmachers erhält, allerdings bedauert er, dass sich der Sprachstil der Autorin bei allen Figuren gleicht, und auch die freie Journalistin Christine Wahl empfindet die Entwicklungsgeschichte des Protagonisten vor allem als eine typisch männliche – vom Underdog zum Boss, wobei eine Frau mit spaßbremsenhaften Zügen die Aufgabe hat, ihn zu „erden“. Außerdem sind sich die Jurymitglieder, auch mit dem Autoren Bernhard Studlar im Bunde, einig, dass die versuchte Zeitlosigkeit des Stückes nicht gelungen ist. „Freund Till, genannt Eulenspiegel“ und „Zur Zeit nicht erreichbar“ von Petra Wüllenweber, das am Theater Überzwerg in Saarbrücken inszeniert wurde, mussten nach Abschluss der Tableau-Runde als erste Teilnehmer das Rennen verlassen. Zwar wurde Wüllenweber zugestanden, dass die Themenwahl eine mutige war, denn in „Zur Zeit nicht erreichbar“ wird das Familienmanagement innerhalb der ersten wenigen Tage nach dem Unfall-Tod der Mutter beschrieben. Der starke Formwille der Autorin und ihre Detailverliebtheit, die dafür sorgen, dass jede  Figur einen eigenen kleinen Handlungsstrang erhält und dadurch zu viele Nebenschauplätze verursachen, brachten die Jury dazu, ihren Text nicht als in diesem Maße honorierbar zu erachten.

Mink plädierte schließlich im Rahmen der Siegerfindung für das am letzten Festivaltag gespielte Stück „Lottes Feiertag oder wie Joseph zu seiner Ohrfeige kam“, in dem das Mädchen Lotte nach einem Kuss von Joseph auf der Geburtstagsfeier ihres Großvaters in den Brunnen fällt und gerettet werden muss. Überraschenderweise kein Autor, sondern eine Stückentwicklung der Schauspieler Michael Schramm und Sabine Zieser vom Theater Mummpitz in Nürnberg, überzeugte ihn. Er argumentierte, hierin das modernste Stück der Woche gefunden zu haben, unter anderem aufgrund fehlender Linearität. Auch seine Jury-Kollegen waren von dem Stück überzeugt, merkte Wahl doch an, dass der Text sich erst auf der Bühne entfalte, was eine genuine Qualität von dramatischer Literatur sei. Studlar las für das Publikum der Jury-Debatte den Programm-Text der Nürnberger vor und rief aus: „Das liest sich wie ein Actionfilm!“. „Held Baltus“ von Lutz Hübner, inszeniert am GRIPS Theater in Berlin war der ungeliebte Endrundengegner. Die Figuren der „Single-Frau mit sechsjährigem Sohn, der außer ihr keine Menschen sehen möchte sucht Mann und Vater“-Geschichte waren den Jury-Mitgliedern zu schablonenartig, die Plot-Entwicklung zu vorhersehbar und simpel. Trotz Studlars Begeisterung für „Lottes Feiertag“ entschied er sich schließlich doch für Jens Raschkes „Schlafen Fische“ vom Theater im Werftpark, Kiel, ganz einfach, weil er den Erzählton so mag. „Schlafen Fische?“ ist ein Monolog, gesprochen von der Schauspielerin Bettina Storm, die als zehnjährige Jette jede Woche an das Grab ihres Bruders zurück kehrt, der mit sechs Jahren an Leukämie sterben musste. Zeitlich ist das Stück ein Jahr nach seinem Tod eingeordnet. Literarisch ebenso anspruchsvoll wie für Kinder ab acht Jahren verständlich, erzählt sie von ihren Erfahrungen, spielt Stationen bis zum Tod des Bruders durch, beschreibt die Beerdigung und ein Leben danach. Jens Raschke hat laut Studlar auf überzeugende Weise die Perspektive eines Kindes eingenommen, an dem Erzählanlass besteht keine Frage und erzählt wird einerseits anrührend aber andererseits drückt der Autor nicht ununterbrochen und aktiv auf die Tränendrüse. Wahl empfindet es als eine besondere Stärke von „Schlafen Fische?“, dass der Text sich Leerstellen erlaubt, Dinge werden ausgesprochen, die verwirren oder andere Dimensionen eröffnen können ohne erklärt oder auserzählt zu werden. Dennoch fällt es ihr schwer über die Vergabe des mit 10000 Euro dotierten letztendlich entscheiden zu müssen. „ ‚Lottes Feiertag‘ ist modern, das wäre ein kulturpolitisches Statement“, versucht Mink sie zu überzeugen, aber sie erkennt schlussendlich nicht, warum ein Monolog als antiquiert betrachtet werden sollte, empfindet diesen, ganz im Gegenteil, gerade im Kindertheater als besonders erfrischend.

„Schlafen Fische?“ gewinnt bei den „KinderStücken 2012“ in Mülheim.