Eine Frage der Ursachenforschung
Nordpol und Südpol sind extreme Lebensräume. Auf den ersten Blick könnte man meinen, sie unterscheiden sich kaum voneinander. Beide sind kalt, weiß und windig. Aber während der Südpol Landmasse hat, ist der Nordpol nichts anderes als gefrorenes Meerwasser auf hoher See. Die zehnjährige Ida ist Polarforscherin und kennt sich da aus. Denn ihr ganzes Leben ist ein Hin und Her zwischen den Extremen, zwischen Antarktis und Arktis, zwischen Festland und bodenlosen Abgründen.
Die Mutter ist alkoholkrank und leidet unter Depressionen. Nach der Schule weiß Ida nie, was sie erwartet. Ist ihre Mutter wach? Gibt es Mittagessen oder muss sie selber kochen? Ist die Wäsche schon gemacht? Das Schlimmste an den sogenannten „schlechten Tagen“ ist aber, dass sie niemanden zum Reden hat. Wäre da nicht ihr (imaginärer) Freund und Forscherkollege Robert Falcon Scott, der ihr nicht von der Seite weicht.
Ida hat etwas herausgefunden. Sie hat nicht eine, sondern zwei Mütter. Eine Nordpol- und eine Südpolmutter. Und so wird die eigene Mutter zu Idas und Scotts gemeinsamem Forschungsprojekt. Verhaltensweisen werden genau beobachtet, dokumentiert und ausgewertet. Dadurch gelingt es Ida, die Krankheit ihrer Mutter besser zu verstehen und einen differenzierten, aber dennoch liebevollen Blick auf diese zu entwickeln.
Für ein Problem hat aber auch die selbständige und hochintelligente junge Polarforscherin keine Lösung. Schon viel zu lange trägt Ida einen blauen Brief der Lehrerin mit sich herum. Blaue Briefe verheißen meistens nichts Gutes, und sie will die Mutter nicht beunruhigen. Ohne die Hilfe ihres neuen (realen) Freunds Amre hätte sie vielleicht nie erfahren, welche Zukunftschancen dieser Brief eröffnet.
Armela Madreiters präziser und kraftvoller Theatertext ist durchdrungen von dem zutiefst menschlichen Bedürfnis, die Welt verstehbar und damit veränderbar zu machen. Humorvoll und sensibel zeigt sich darin, wie Erfindergeist und Empathievermögen dem Schrecken einer Suchterkrankung entgegentreten.
Dora Schneider