Der lange unruhige Fluss
Löchrige Schuhe, leere Patronenhülsen: All das, so heißt es im Prolog von Maria Milisavljevićs Stück „Staubfrau“, findet sich im lokalen Fluss. Buchstäblich abgründig beherbergt das Gewässer in seinen Tiefenregionen Dokumente der Geschichte und Zeugnisse gelebten Lebens, an die beim Blick auf die ruhige Oberfläche längst kein Mensch mehr denkt – oder denken will.
Auch Hannas Fahrrad liegt dort unten. Sie hat es einst für ihre beste Freundin Therese hineingeworfen, als sie im Fluss deren silberne Kette entdeckte. Fritz, ein Mann aus dem Dorf, hatte Therese die Kette auf dem Rummel geschossen, nach zehn Bieren. Dann vergewaltigte und tötete er das Mädchen – ohne jemals dafür belangt zu werden. „Er machte einfach weiter“, lässt Milisavljević Hanna in ihrem Stück sagen. „Bis er starb. An einem Herzinfarkt mit / achtundachtzig. Der ganze Ort kam zu seiner Beerdigung. Und / die Schützen schwenkten die Fahne über seinem Grab und der / Kirchenchor sang.“
Hanna ist die älteste von drei Frauen, deren Lebensgeschichten die Dramatikerin ineinander verwebt beziehungsweise, um im Bild des Flusses zu bleiben, poetisch ineinanderfließen lässt. Es sind Großmutter, Mutter und Tochter, die hier zeitenübergreifend in Dialoge treten und deren Biografien zeigen, wie Gesellschaft sich zwar verändert hat über die Jahrzehnte, wie Frauen sich über Generationen hinweg emanzipieren konnten, aber eben auch und vor allem, was sich gleichsam sedimentiert hat auf dem Grund des Flusses der Zeit: wo brutale Kontinuitäten herrschen, Frauen nach wie vor abgewertet, missbraucht, getötet werden.
Da ist Hannas Tochter, die geschlagen und betrogen wird von ihrem Mann, der sich am Esstisch Ohropax in die Gehörgänge stopft, um ihr „Gemaule“ nicht hören zu müssen: eine Idee seiner Geliebten, wie sich herausstellt. Und da ist die Enkeltochter, die „Hauptsprechende“ des Stückes, wie es im Intro heißt: eine hiesige und heutige Mittdreißigerin, deren Prägungen unmittelbar mit den Schicksalen der Vorgängerinnen verknüpft sind. Die darauf pocht, dass Frauen sich aus fatalen Verblendungszusammenhängen befreien, und die – ermutigt vom großmütterlichen Geist – abendfüllend darüber nachdenkt, ihren Mann zu verlassen. Weil sie seine Demütigungen nicht mehr erträgt, die sich gern in Essensempfehlungen Bahn brechen, und auch den Sex nicht. Weil die Sisyphos-Hausarbeit sie genauso zermürbt wie das endlose innereheliche Nichtverstehen. Für ihren Ausbruchsversuch wird auch sie in Maria Milisavljevićs „Staubfrau“ zum Todesopfer (ehe-)männlicher Gewalt.
Schicht um Schicht tritt in Anna Stiepanis konzentrierter Uraufführungsinszenierung mit ihren drei markanten Darstellerinnen nicht nur zutage, welche Muster sich von Generation zu Generation fortsetzen, sondern auch, welche Imperative Frauen – zu ihrem eigenen Nachteil – verinnerlicht haben. So wird „Staubfrau“ zu einem ebenso präzisen wie konkreten Stück Gesellschaftsbeschreibung.
Christine Wahl