Verschlossene Gesellschaft
Der Zugang zu Frau Yamamotos Wohnung steht offen. Das ist merkwürdig für ein Mietshaus in der Großstadt. So etwas lockt Neugierige an. Und Wohnungssuchende.
Der Zugang zu Frau Yamamoto steht ebenfalls offen. Man muss nur neugierig sein wollen, nur näher hinschauen, und das tun nicht mehr viele in diesem urbanen Umfeld, in dem sich zwar jeder und jede ständig nach Glück sehnt, aber, und das ist auch merkwürdig, offenbar niemand einen Glücksfund zu erkennen weiß. Schon gar nicht in Gestalt einer diskreten älteren Dame.
Ausgenommen Nino. Der nimmt eine offene Tür an. Das mag daran liegen, dass dem Enddreißiger ein fester Platz im Leben fehlt. Und dass Frau Yamamoto ausstrahlt, was Nino vermisst: innere Ruhe. Jedenfalls lädt Nino die alleinstehende Nachbarin zum Essen ein – und kümmert sich dieses eine Mal nicht um das Urteil seines zu Bevormundung und Kontrollwahn neigenden Partners. Erik würde eine Unbekannte niemals näher an sich heranlassen: „Was haben wir in ihrem Leben verloren. Nichts.“
Während Frau Yamamoto Ninos Fischsuppe löffelt und im Gegenzug mit charmanter Genügsamkeit die Geheimnisse ihrer Vergangenheit serviert, ereignet sich noch einiges in Dea Lohers Comebackstück. Einiges in einem filigran komponierten Reigen mit einer Reihe von namenlosen Paaren und Figuren, die sich begegnen, anziehen, abstoßen. Häufig Letzteres. Und die den Sinn für Offenheit in einer zunehmend verschlossenen, zunehmend entnervten Gesellschaft beinahe verlernt haben.
Da hält sich eine reife, reiche Dame einen minderbemittelten Gigolo und macht ihrem Therapeuten weis, sie sei von der Mutter als Dirne ausgebeutet worden. Da fühlt sich eine Frau im Restaurant von der Kellnerin wie eine Diebin beobachtet – und stellt die Servicekraft peinlich aggressiv zur Rede. Da reimt sich ein völlig untalentierter Dichter aus unschuldigstem Herzen Liebesverse auf Vorrat zusammen – was ihn durchaus liebenswert macht. Eine junge Prepperin am Ententeich versucht, eine andere mit rechtsmilitantem Gedankengut anzufüttern; zwei Anglerinnen entdecken massenhaft tote Fische im Fluss. In einer anderen Szene telefoniert eine Frau hypernervös mit ihrer Freundin und behauptet, durch ihr Fenster über die Straße einen Psychopathen zu beobachten.
Wie Dea Loher all diese Handlungsfäden sachte, andeutungsweise und doch entschlossen miteinander verknüpft, zeugt von hochsensiblem Gespür für die Reduktion aufs Wesentliche. Florian Etti hat für das Staatsschauspiel Stuttgart eine Drehscheibe entworfen; das Videodesign von Yoav Cohen tuscht rundum im Raum geheimnisvolle Illustrationen und Handschriften auf die Wände – ein sehr stimmiges Setting angesichts der durchlässigen Zeitebenen in diesem fein durchdachten Stück.
Frau Yamamoto ist noch da. Auch wenn sie, wie wir alle, sterben wird. Sie ist kein Weltgeist. Sie steht nicht über den Zwängen der Vergänglichkeit. Gleichwohl schöpft immerhin Nino aus ihrer Bekanntschaft Kraft für einen existenziellen Neuanfang. Yama moto. Das ist Japanisch und bedeutet Bergquelle.
Stephan Reuter