+++ Die 50. Mülheimer Theatertage finden vom 10. – 31. Mai 2025 statt. +++

Zu Petra Wüllenwebers "Zur Zeit nicht erreichbar"


Schauen zwei Mäuse einer Fledermaus beim Sturzflug zu.

Das Theater für junges Publikum
Geschrieben von: Marie-Hélène Nille-Hauf, Nina Heinrich und Nicole von Horst   
Donnerstag, den 24. Mai 2012

Sunny Zauner stirbt nach einem Autunfall aufgrund vager Komplikationen im Krankenhaus. Vier bleiben um diese Lücke herum zurück, die Großmutter (Eva Coenen), der Ehemann Matthias (Reinhold Rolser) und die gemeinsamen Kinder Venja (Sabine Merziger) und Nico (Nicolas Bertholet). Wie verhält und organisiert sich eine Familie nach einem Todesfall neu? Welche Aufgaben übernehmen die Großeltern, wenn die klassische Familienstruktur wegbricht?
Mit diesen zurückgebliebenen Figuren beginnt die Inszenierung Petra Wüllenwebers eigenen Theatertextes “Zur Zeit nicht erreichbar”. Am professionellen Kinder,- Jugend- und Familientheater Überzwerg in Saarbrücken in Auftrag gegeben, im Herbst 2011 erstmals präsentiert und zu den Mühlheimer Theatertagen 2012 eingeladen.

Gefühle hinter Glas
Als Bühnenbild (Matthias Werner) dient ein sich quer über die Bretter ziehender Glaskasten, in sechs Sektionen unterteilt. Von links nach rechts befinden sich fünf Personen. Diese sind für das Publikum sichtbar, wenn über ihnen eine Lichtdusche anspringt und sprechen dann. Sie sind zum Zeitpunkt des Autounfalls der Mutter räumlich voneinander getrennt und berichten im Licht stehend jeweils darüber, in welcher Situation sie sich befinden, was sie tun, mit wem sie es tun, was sie dabei fühlen und denken. Davon abgesehen kann diese sektionsweise Unterbringung auch eine Darstellung der unterschiedlichen Lebenswelten der Familienmitglieder sein, die trotzdem alle Teil der gleichen Tragödie sind. Venja erlebt die erste Verliebtheit und leidet unter Selbstzweifeln; Nico lebt in einer großen Abhängigkeit zur Mutter und plagt sich nach deren Tod mit Schuldgefühlen; der Vater fühlt, in seiner Aufgabe als Beschützer der Familie versagt zu haben (gerade im Zusammenhang mit seinem Beruf als Versicherungsvertreter; die Oma, die in jener Anfangssequenz nicht zu Wort kommt und nur mit dem Rücken zum Publikum steht (späteres Zitat: „Ich habe irgendwann nicht mehr hingesehen.“) schlägt sich mit der Schuld gegenüber ihrer Tochter aus der Vergangenheit herum. Eine weitere Sektion wird mit der besten Freundin von Venja gefüllt, deren Darstellerin auch alle anderen Nebenfiguren des Stückes verkörpert, die Nachbarin, die Lehrerin (Isabelle Groß de García). Die sechste Sektion ist und bleibt leer. Eine Lücke, die von der Mutter nicht länger gefüllt werden kann. Weiterhin kündigt sich mit dieser Einführung eines offensichtlich sehr dominanten und allein stehenden Bühnenelements auch ein Konzept der Verwendung an. Die Darsteller treten hinter der Rückseite der Glaswand mit Boden hervor, die Lichtduschen werden gelöscht und die Wand wird von außen und mit der Beleuchtung üblicher Bühnenscheinwerfer zu einem Spiegel. Der Innensicht dienende Monologe der Figuren werden hinter der Wand abgehalten; Ereignisse, Tätigkeiten, Dialoge vor dem Spiegel, der Assoziationen zu dem Oberflächlichen, von außen Sichtbaren auslöst. Doch entweder hat es dieses Konzept niemals tatsächlich gegeben, oder es wird den Plot vorantreibend zwecksentfremdet; für diverse Darstellungen einer Handlung muss das Bühnenbild herhalten. Die Wand trennt verschiedene Räume innerhalb des Familienhauses voneinander, möchte eine Distanziertheit innerhalb eines zwischenmenschlichen Verhältnisses ausdrücken, ist der Traueraltar der Mutter und die Reproduktion des Publikums im Spiegel als Trauergemeinde. Was ihn so vielfältig einsetzbar erscheinen lässt, macht ihn unter dem Strich der Rechnung hinfällig. Während der großen brisanten Finalsituation dient er sogar als die „Alte Fabrikhalle“. Ein Regieeinfal sorgte vor allem bei dem jungen Publikum für Staunen: Die Wand fällt nach vorne hin um, wobei wider Erwarten kein lauter Knall zu hören ist, sondern das Publikum nur von einem erfrischendem Windzug erfasst wird.

You’re not gonna reach my telephone.
Der Einsatz von Musik ist eine heikle Gratwanderung zur Ausschmückung von Theaterstoffen, wobei den tiefsten Sturz vermutlich ein Missbrauch dieser für Übergänge zwischen Szenenhandlungen darstellt; dies mag ein bewährtes Mittel für Hörspiele sein, die Bühne allerdings wurde bekanntlich für szenische Handlungen gezimmert. In Wüllenwebers Inszenierung geschieht derlei erst einmal durch eher fließende Lounge-Musik, nach dem Ableben der Mutter durch düster-bedrohliche Töne der Band Massive Attack. Durch den die Stimmung enorm aufladenden Effekt dieser Klänge wird Wüllenweber zusätzlich die Arbeit abgenommen, mit ihren Texten und ihren Ideen innerhalb der szenischen Umsetzung für Emotionen zu sorgen. Das Popjuwel „Telephone“ von Lady Gaga ergänzt zwar das auch ansonsten verfolgte Motiv eines gescheiterten Versuchs, mit jemandem zu telefonieren, ist aber nur kurz und unmotiviert, ohne noch einmal aufgegriffen zu werden, in das Stück eingestreut. Auf die Spitze getrieben wird dieser wenig konsequente Umgang mit Musiktiteln von dem Einsatz eines Radiohead-Songs, zweimal kurz vor Einsatz des zurückhaltenden Applauses eines jungen und eigentlich begeisterungsfähigen Publikums.

Show don’t tell
“Auf meine rotgefrorenen Hände fällt Regen.” Was in seiner fast innigen Selbstbetrachtung Gedichtzeile sein könnte, ist Monolog des zehnjährigen Nico, der alleine in dem alten Fabrikgelände herumklettert. Er beschreibt die Szenerie, in der er sich bewegt, als beobachte er sich mit großem Abstand zu seiner Person. Er benennt, was er tut und sieht, während er es tut und sieht, um es dem Publikum in dem dunklen, abstrakten Bühnenbild anschaulich zu machen. Das passiert teils in Form von technischen Beschreibungen und durch Darstellung von Kletteranstrengung, aber auf eine Weise, dass die Szene, in der er in eine gefährliche Höhe klettert, unübersichtlich und nicht nachvollziehbar wird. Irgendwann hängt er zwischen einer Türschwelle und einer Türklinke über einer Tiefe und droht zu fallen, aber woher und wohin? Die Autorin versucht, den Text mehr sagen zu lassen, als er für sich stehend zeigen kann, und sorgt dabei auch an anderen Stellen für Holprigkeiten, die ihre Figuren ungelenk und hölzern klingen lassen. Die Monologe aller Familienmitglieder vermischen dabei innere Empfindungen mit nacherzählter Beschreibung von etwas, das eigentlich Gegenwart ist.
Wenn sie ihre Umgebung benennen, währendsonst nichts passiert, sie nennen, wie ihnen zum Beispiel Gefahr droht, wenn sie dabei nur rumstehen und erzählen, was zu sehen sein soll, ist fraglich, ob Petra Wüllenweber in der Wahl des Mediums richtig gehandelt hat. An einigen Stellen klingt der Text nach (Abenteuer-)Hörspiel, der Einsatz der Zwischenmusik trägt seinen Teil dazu bei, an anderen Stellen hätte es gereicht, den Text in Buchform zu lesen. Warum die Bühne, weshalb die Inszenierung? Doch selbst als Text ohne “Schnickschnack” wäre das Problem nicht gelöst, würden die Monologe immer noch Erzählung und Darstellung vermischen, wären nicht konzentriert bei ihren Figuren und selbstständig nicht ausdrucksstark genug. Der Text sollte zeigen, was passiert, es nicht nur erwähnen. Gerade auf der Bühne! Petra Wüllenweber ist DIE Regel aus allen Ratgebern für Szenisches Schreiben ans Herz zu legen: Show don’t tell.

Schach und Zigarette
Während ihr viele Bilder in der Sprache der Figuren nicht gelingen, verfügt sie über das Handwerk, verschiedene Motive gelungen einzusetzen. Vor allem ist das der Fall beim Telefonmotiv, das sich durch das ganze Stück zieht, ohne aufdringlich zu werden. Nico spricht seiner Muttter auf den Anrufbeantworter, die verunglückt, während sie ihn vom Handballtraining abholen will. Das Krankenhaus erreicht den Vater nicht. Nico geht nicht an sein Handy, als er vermisst wird. SMS-, Freizeichen-, und Anrufgeräusche werden über Boxen eingespielt. Auch das Lied, dessen Choreographie Venja und ihre Freundin einstudieren, ist nicht rein zufällig “Telephone” von Lady Gaga und Beyoncé.

Nicht so konsequent durchgeführt ist das Witzmotiv. Nico, der seiner Mutter fürs Krankenhaus Witze in ein Heft klebt, erzählt zwei, von denen nur einer Relevanz für das Stück hat, weil dieser wieder aufgegriffen wird, als Nico sich nicht traut, in das Sprungtuch der Feuerwehr zu springen.

Das Schachspiel ist zwar gelungenes Moment in der Trauerarbeit Venjas, angeregt von der Oma, ist aber ein albernes Motiv, wenn es an die Rettung Nikos geht, als Venja auf ihren Bruder zuklettert, um ihm zu helfen. “Denke in Schachzügen, dann schaffst du es!” ruft die Oma, Innensicht von Venja beim Klettern daraufhin: “B4 nach B6”.

Die Oma zündet sich tatsächlich Zigaretten auf der Bühne an, obwohl dies im Hause der Familie nicht gestattet ist, somit steht das Motiv der Zigarette erst einmal dafür, dass die Oma sich nicht an die bestehenden Regeln der kleinen Gemeinschaft hält und illustriert die menschlichen Schwächen der Oma, die nicht als “Retterin” in die Familie kommt. Die Kinder petzen es dem Vater, dem das aufgrund der Krise unwichtig ist, wodurch die Zigarette zeigt, dass derlei Nebensächlichkeiten in Anbetracht der drohenden Tragödie zurückgestellt werden; zu einem späteren Zeitpunkt sichert Nico der Oma sogar zu, dass er nicht petzen würde, wenn sie in der Wohnung rauchen möchte - die Familie rückt näher zusammen.

Weniger bildhaft aber durchaus kohärent gestaltet sich auch eine dem Stück zugrundeliegende Leistungsethik. Vater und Sohn finden wieder zueinander, als der Vater dem Sohn Hausaufgabenhilfe verspricht, damit dieser die Versetzung schafft. Der Sohn weiß mit zehn schon, dass er Abitur und Sportstudium anstrebt und lernt freiwillig. Nach dem Tod der Mutter schwänzt der Sohn die Schule und das Handballtraining, der Vater gesteht ihm keine Pause zu, sondern weist auf die Vereinskosten hin. Als Niko sich auf Fabrikhallenhöhen befindet, erklärt er: “Wenn ich es schaffe, die Tür zu öffnen, bin ich Mama ganz nah.” Ein wichtiges Thema ist der Versuch zu funktionieren und etwas zu erreichen und das Scheitern desselben.

Überzwerg statt Scheinriese
Es ist das Anliegen von Bob Ziegenbalg, dem Leiter des Theater Überzwerg, der Theater als einen Ort sieht, zu thematisieren, dass Kinder mit Erwachsenen zu tun haben, die nicht funktionieren.

Er heuerte Wüllenweber an, das Stück „Zur Zeit nicht erreichbar“ für das Theater Überzwerg in Saarbrücken zu schreiben und auch die Regie zu führen. Wie Wüllenweber im Publikumsgespräch erwähnte, soll der Fokus in ihrem Stück nicht auf der Lücke liegen, die von der Mutter verursacht wird, sondern auf den Konflikten, die sich daraus ergeben, wenn diese von einer Großmutter gefüllt wird; denn um diese ging es Ziegenbalg. Es gelte, generationenübergreifend zu arbeiten, vor allem in ein Kinder- und Jugendtheater alte Schauspieler und Themen von älteren Menschen mit einzubeziehen. Das Theater Überzwerg wird vom Land finanziert und ist das einzige Kinder- und Jugendtheater im Saarland. „Kinder sind dankbar, wenn sie ernst genommen werden“, ist sich Ziegenbalg sicher, „Die Machart von beispielsweise Weihnachtsmärchen geht an der Lebenswelt von Kindern vorbei, die ab zehn Jahren längst damit beginnen, Filme für Erwachsene zu sehen.“ Der Name des Theaters „Überzwerg“ ist zwar vor seiner Zeit entstanden, doch er versteht das hiermit Beschriebene als ein Gegenteil vom Scheinriesen, der von weitem einen großen Anschein macht und beim Näherkommen einbüßt. Ein „Überzwerg“ sieht auf den ersten Blick zwar wie etwas Kleines aus, umso mehr steckt allerdings dahinter. Und genau unter dieser sich immer wieder bestätigenden Annahme sollten laut Ziegenbalg die Macher von Kinder- und Jugendtheater arbeiten.

Samthandschuhe tragen?
Wie verhandelt man das Thema Tod, in einem Theaterstück für Kinder- und Jugendliche, ohne mit Samthandschuhen daneben zugreifen, bei einem bereits in diesem Kulturkreis existierenden heiklen Umgang damit. Teile der Familie Zauner reagieren nach dem Tod der Mutter durch unterschiedliche Formen des Eskapismus. Abend für Abend verschwindet der Vater an den Unglücksort, um den Verlust zu begreifen, der Sohn durchbricht seinen gewöhnlichen Schulalltag, um im alten Fabrikgebäude sein Gewissen mit Fragen der Mitschuld zu malträtieren. Andererseits regelt ein merkwürdiger Grad an Pragmatismus die relevanten Abläufe des Familienalltags. Die Großmutter wohnt nun zeitweise in der Wohnung, möchte Pausenbrote schmieren und die Wäsche waschen, muss sich aber erst in die Familienstruktur einfinden. Erschwerend dazu gibt es den persönlichen Konflikt der Großmutter mit ihrer eigenen unaufgearbeiteten Vergangenheit zu ihrer Tochter Sunny. Die Auflösung dieses Problems der Großmutter am Ende macht nicht klar, wozu die zusätzliche Spannungssteigerung mithilfe dieses Konflikt beitragen sollte. Was trägt diese Nebenhandlung bei, Katalysator oder zusätzliche Sichtweise; sie wirkte trotzdem merkwürdig verkrampft und erzählte vielleicht nicht mehr als alle anderen Nebenhandlungen. Dabei bieten diese insgesamt vielleicht sogar Menschen unterschiedlichen Alters innerhalb eines einzigen Theaterstücks, was eigentlich für Kinder und Jugendliche ausgerichtet ist, natürlich unterschiedliche Möglichkeiten des Andockens. Die Nebenhandlungen des Vaters vielleicht von einer zu klischeebehafteten Figur. Der Vater beschäftigt sich auf seiner Insel mit sich selbst, entzieht sich seinen Kindern im Gegensatz zur Oma, die wenigstens die Kinder mit Schachspielen und dem gemeinsamen Tanzen zu ABBA-Songs unterhält. Nico widersetzt sich der Routine, zweifelt am bisher Bestehenden und verschafft sich Erleichterung und einen Raum der Auseinandersetzung, indem er sich mit Curry-Ketschup beträufelt. Die Tochter zieht sich heimlich den Pullover der Mutter an. Nico entdeckt sie dabei, untereinander versprechen die beiden sich, den anderen kein Wörtchen über die eigenen, als abnormal empfundenen Trauerversuche zu verraten.

Das Unglück schweißt die Geschwister zusammen. Aber was ließe sich darüber hinaus bei diesem guten Thema auf einer Theaterbühne noch verhandeln? Dazu könnte auch gehören, die als Fetisch belasteten Versuche der Trauer der Kinder ins Handlungsfeld der Normalität zurückzuführen. Was wäre das für eine Auseinandersetzung, wenn Venja den Pullover der Mutter nicht nur heimlich trüge? Weniger scheinbarer Pragmatismus und Hysterie. Was von der Mutter als einziges ihr zugehöriges Element innerhalb der Familie verhandelt wird, sind drei unberührte Packungen Ferreroküsschen im Büffetschrank. Die Beziehung der Mutter zur Familie findet in der weiteren Trauerarbeit keinen Platz.

Im Nachgespräch erklärt die Autorin und Regisseurin, dass es ihr weniger um die Lücke gegangen sei, die Sunny als Mutter und Ehefrau hinterlässt. Eher interessiert ist Wüllenweber am Handeln der real Hinterbliebenen. Das ist ein lebensbejahender und fokussierter Ansatz, aber um zum “Essenziellen” zu kommen, bedarf es doch erst einmal einer sichtbaren Auseinandersetzung mit der dafür möglichen Substanz.