Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!

Sein oder Schwein

Es ist Elfriede Jelineks 21. Einladung zu den Mülheimer Theatertagen. Die österreichische Literaturnobelpreisträgerin hat den Dramatikpreis schon vier Mal gewonnen, und trotzdem ist sie wieder dabei, muss sie wieder dabei sein. Denn es ist nun mal sie, die Schnellste und Grellste von allen, die das Stück zur Pandemie geschrieben hat. „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ ist eine bitterböse Corona-Kakofonie. Ein Text am erhöhten Puls unserer kranken Zeit.

Durchzogen ist das Stück – eine mehr als 80 Seiten lange, ohne Rollenangaben und Regieanweisungen wild dahinmäandernde Textfläche wie immer bei Jelinek – von dem Gerede und den Gerüchten über das Virus: den Ansagen der Politiker und Wissenschaftler; dem Geraune, ob es nicht vielleicht in einem Labor gezüchtet wurde; den Spekulationen, ob es wirklich tödlich ist oder harmloser als eine Grippe; von all den Verschwörungstheorien über Mikrochip-Implantierung, Radiowellen, Strahlungen und wer wohl dahinterstecken könnte, „die Chinesen“, die „Familie Rothschild“ oder der mächtige Bill Gates, der „die Weltherrschaft übernehmen“ will. Das ist nach zwei Jahren Pandemie nicht sonderlich neu, bildet aber auch nur das Hintergrundrauschen für ein Stück, das den Menschen als das eigentliche globale Virus ausmacht: schlecht von und schlecht zur Natur, seine Umwelt und Lebensgrundlagen zerstörend.

Ausgehend von jenem Superspreader-Event, das sich Anfang 2020 in einer Après-Ski-Bar im österreichischen Ischgl ereignete, wo feierwütige Sex-nach-der-Piste-Touristen die Sau rausließen, kurvt Jelinek im wendigen Satzslalom gewohnt kalauer- und as- soziationsfreudig bis in die griechische Mythologie, seit je der Nährboden für ihr Schreiben. Fündig wird sie diesmal im 10. Gesang von Homers „Odyssee“. Darin verwandelt die Zauberin Kirke (auf der Bühne: Eva Mattes) die Gefährten des Odysseus (Ernst Stötzner) nach einem üppigen Gelage in eine Horde Schweine. Es ist von satirischer Verve und Bosheit, wie Jelinek von den verschwörungsinkriminierten Mobilfunkmasten der Corona-Leugner zum Schiffsmast des Odysseus und von dort generell auf die Schweinemast zu sprechen kommt, speziell auf die Fleischfabriken à la Tönnies, wo auf engstem Raum wie die Säue zusammengepferchte Billiglohnarbeiter sich mit dem Virus angesteckt haben. Wobei die Schweine-Metapher sich natürlich auch auf jene Männer bezieht, die sich in Karin Beiers fabelhaft besetzter, wutgeboosteter Uraufführungs-Inszenierung sehr schamlos und testosterongeil mit allerhand Sexpuppen vergnügen.

Dieser Fährte der Fleisch(es)lust und menschlichen Gier folgend, stößt die Inszenierung dahin vor, wo es schmerzhaft und eklig wird – und existenziell. Die Bühne wird dabei von der alpenländischen „Kitzloch“-Bar immer mehr zum Schlacht- und Krankenhaus. Am Ende, wenn die großartige Julia Wieninger in einem 15-minütigen Monolog eine dicke Heidegger-Lippe riskiert, tut sich ein tieftrauriger, tiefbrauner Abgrund auf. Zum Gruseln.                                                                                                

Christine Dössel