Seltsame Sympathien
Wer sich dafür interessiert, warum die rechtsextreme AfD gerade in Ostdeutschland ungeahnte Erfolge feiert, kommt um Lukas Rietzschels „Das beispielhafte Leben des Samuel W.“ kaum herum. Das „Theaterstück aus Interviewsequenzen“, so der Untertitel, besteht aus montiertem Schnipselmaterial von über 100 Gesprächen, die der Autor zwischen Januar und September 2022 geführt hat. Rietzschel hat einmal kräftig umgerührt in der Ursuppe der Meinungen, Erinnerungen, Projektionen, Hoffnungen und Erfahrungen im tiefen Sachsen.
Die Probleme von heute begannen gleich nach der Wende. Die damit verbundenen Freiheitsgewinne werden nach wie vor positiv verbucht, aber die Liste der Verluste und Enttäuschungen ist überlang: existentielle Unsicherheit, der Not gehorchender Wegzug, Trennungen, immer wieder gebrochene Versprechungen und Demütigungen. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die ins Nichts führen. Gleichzeitig wollten die neuen Lebensregeln gelernt werden: „Also den Zusammenhang von Arbeit und Geld, den wusste ich. Ich wusste aber nicht, dass es da auch um Status geht, um Anerkennung.“
Wird man deshalb gleich rechtsextrem? Anders gefragt: „Glauben sie an den Mythos der entnazifizierten DDR?“ Rietzschels Interviewpartner jedenfalls nicht. In der Generation der Großeltern standen glorreiche Wehrmachtserinnerungen hoch im Kurs: „Das war ein schleichender Übergang von der Überlegenheit des deutschen Militärs, der deutschen Ingenieure hin zu den Deutschen allgemein.“ Was auch im Verhältnis zu Russland seltsame Haken schlägt: „Erst bekämpft man den Russen, will ihn ausrotten, und dann wird man von den Russen besiegt und hält sich trotzdem für den Sieger, weil man ja nun auf der Seite vom Russen steht.“ Auf solchen Widersprüchen wachsen seltsame Sympathien. Schließlich die multiplen Krisenerfahrungen seit den späten Nullerjahren, die gerade einer Gesellschaft im Umbruch stärker zusetzen als dem vergleichbar wohlstandsgepufferten Westen. Von Transformationsmüdigkeit, Erfahrungen der Schwäche und Ablehnung ist es dann nur noch ein kurzer Schritt, bis man Stärke, Machtgefühl und das Eigene verklärt.
Das Ensemble klappt zu Beginn ein Häuschen samt Jägerzaun, Kugelgrill, Gartenmöbeln und Sonnenschirm auf. Später singen sie dazu im Chor die passende Bauanleitung: Paul Hindemiths Kinderliedklassiker „Wir bauen eine neue Stadt / die soll die allerschönste sein …“. Den rührend infantilen Aufbruchsoptimismus des Settings (Ausstattung Sven Hansen, Regie Ingo Putz) füllen die Schauspieler*innen tatkräftig aus. Alle steuern ganz unschuldig ihre besten Einsichten bei. Sogar der Polizist kommt auf dem Kindertretroller hereingefahren. Ein Wunderland der enttäuschten Hoffnungen. Im Hintergrund turnt Elise de Heer stumm das ganze Stück über auf einem Podest im grauen Funktionärsanzug mit Schlips eine Mischung aus Kung-Fu-Choreografie und martialischen Rednergesten.
„Wenn wir uns alle helfen, steht unsere Stadt bald da.“ Nicht nur Paul Hindemith hat sich das einmal anders gedacht.
Franz Wille