Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau

Wir sind da

Ein Mädchen und zwei Jungen, wütend und verzweifelt, erzählen ihre Geschichte. Sie sind verzweifelt, weil ihre Situation ihnen keinerlei lebenswerte Zukunft eröffnet, außer die ständige Sorge um Nahrung und Wasser. Wütend, weil sie sich wie unerwünschter Ballast, vergessen fühlen, nicht wahrgenommen, wie ausgelöscht.

Sie stehen am Strand und schauen sehnsuchtsvoll zum Horizont. Das Mädchen will weg von hier. Sie träumt von einem Ort tief unter dem Meer. Von einer leuchtenden Stadt, in der alles besser ist. Ein Königreich voller Überfluss, und sie wäre die Prinzessin, eine richtige Meerjungfrau.

Roland Schimmelpfennig findet in seiner Adaption des Märchens von Hans Christian Andersen einen ganz besonderen thematischen Zugriff, indem er das Schicksal dreier junger Menschen andeutet, deren einzige Möglichkeit Flucht und Migration sind, um sich der perspektivlosen, lebensbedrohlichen und menschenunwürdigen Realität zu widersetzen. Dazu stellt er Andersens Märchen quasi auf den Kopf. Dort ist der Sehnsuchtsort der kleinen Meerjungfrau bei ihrem Prinzen an Land. Hier erträumen sich ein Mädchen und ihre beiden Freunde einen paradiesischen Ort unter Wasser. In ihrer Fantasie wird der Ort immer realer und der Wunsch, dort hinzugelangen, schließlich so stark, dass sie sich leichtsinnig in größte Lebensgefahr begeben. Mangels Alternative kommt es schließlich zu einem diffusen Handel mit einer rätselhaften Hexe, und eine Reise ins Ungewisse nimmt ihren verhängnisvollen Lauf.

Denn plötzlich ist das Meer nicht mehr eine faszinierend glitzernde Traumwelt, sondern wird zum Ort des Schreckens und des Unheils, an dem sie namenlos zu verenden drohen. Wirklichkeit oder Traum?

Inhaltlich, sprachlich und formal ist Roland Schimmelpfennig ein wunderbares Stück gelungen, mit viel inszenatorischer Freiheit, die die Regie und die Schauspieler*innen großartig ausschöpfen. Das Ergebnis ist eine Inszenierung, die nur so vor Spiellust sprüht und das ernste Thema humorvoll ausbalanciert.

Werner Mink